: Neue gesamtdeutsche Verfassung oder Grundgesetz pur?
■ Gespräch mit dem Forum Bürgerrecht und Demokratie: Gleichstellung derFrau, Umweltschutz, Recht auf Arbeit und Stärkung direkter Demokratie als Meßlatte für eine neue Verfassug
Das Bremer Forum Bürgerrecht und Demokratie existiert seit Ende 1988. Es versteht sich als loser Zusammenhalt diverser Bürgersrechtsbewegungen wie der Humanistischen Union, den Richtern und Staatsanwälten in der ÖTV, die Strafverteidigerinitiative, Bürger beobachten die Polizei, SPD und Grüne. Im Moment bemüht sich das Forum auch durch Diskussionsveranstaltungen, die Frage, wie eine künftige Gesamtdeutsche Verfassung aussehen soll, zu problematisieren. Die taz sprach mit dem Juristen Hans-Ernst Böttcher (ÖTV) und dem Lehrer Dieter Mazur (GEW) über diesen Themenkomplex.
Die Geschwindigkeit mit der die Deutsche Einheit hergestellt werden soll, wird immer schneller. Jetzt meldet Ihr Euch zu einem Zeitpunkt zu Wort, wo vieles schon vorentschieden ist. Zwei Fragen: Hat 'die Linke‘ die Debatte verschlafen?, und zweitens: Was glaubt Ihr, kann noch angehalten oder in eine andere Richtung geschoben werden?
Hans-Ernst Böttcher: Ich meine nicht, daß die Linke die Diskussion verschlafen hat, aber man muß ganz klar sagen, sie hat sich nicht Gehör verschafft und zum Teil über die falschen Themen und die falschen Kontroversen diskutiert. Das andere ist: Eine Regierung, die von anderen gestellt wird, hat auf eine ganz bestimmte Weise Politik gemacht. Und da nützt es überhaupt nicht, sich nur die klugen Gedanken von vorgesten nochmal zu machen. Man muß sich auch überlegen, wie stellt man sich der Diskussion. Das heißt, über den Tag hinauszudenken und zu überlegen, wie man im nächsten und übernächsten Schritt wenn nicht die Hegemonie, dann doch wenigstens Gehör finden könnte?
Welche Punkte müßten stärker thematisiert werden?
Dieter Mazur: Eine Verfassungsdebatte ist unbedingt notwendig. Der kalte Krieg ist vorbei. Und wenn das so ist, dann muß darüber nachgedacht werden, welche Relikte abgeschafft werden müssen und - für die Zukunft - gedacht, wie in dieser neuen Lage ein gesamtes Deutschland sich in diesen europäischen Rahmen einbettet. Es gibt diverse Punkte, die jetzt diskutiert werden müssen.
Welche?
Böttcher: Einige Dinge werden schon öffentlich diskutiert. Zum Beispiel Umweltschutz, die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau und in dem Zusammenhang das Selbstbestimmungsrecht der Frau, vor allem auch der § 218. Es gehören aber auch Dinge herein, über die weniger gesprochen wird. Zum Beispiel die Fragen: Wie wird ein öffentliches Dienstrecht in der vergrößerten Republik aussehen? Wie wird der Föderalismus lebendiger? Wie wird die Finanzverfassung aussehen - etwas, was Bremen ganz besonders interessiert.
Mazur: Es gibt ja den Verfassungsentwurf des Runden Tisches. Da muß Gleichrangigkeit zwischen diesem Entwurf und dem Grundgesetz hergestellt werden. Dann muß im Rahmen der Verfassungsdebatte berücksichtigt werden, daß wir eine verfassungsgebende Versammlung bekommen. Nicht, daß gesagt wird, das künftig gesamtdeutsche Parlament wird's schon richten. Und: Es muß am Ende ein Volksentscheid über diese Verfassung stattfinden, in beiden deutschen Staaten. Inhaltlich finde ich es besonders wichtig, die plebiszitären Elemente, Volksabstimmung, Volksbefragung zu verstärken. Da müssen zentralistische Bestrebungen abgewehrt werden. Und die föderativen Elemente und die Legislative verstärkt werden. Ich denke auch, es muß das Menschenrecht auf Gewissenfreiheit noch deutlicher in die Verfassung. Dann sind die elendigen Gewissenprüfungen nicht mehr machbar. Jeder muß sagen können: Ich bin zum Kriegsdienst nicht bereit. Das wäre ein Schritt in Richtung auf eine „Zivilgesellschaft.“
Nun gehört zu einer Idee ja auch eine Strategie. Grüne und linke SPD'ler sind bislang von der Diskussion überrollt worden. Ist in dem, was ihr vorschlagt, die Niederlage nicht schon angelegt, wenn Ihr sagt, wir müssen Grundgesetz und den Entwurf des runden Tisches gleichberechtigt diskutieren?
Böttcher: Wer nicht gegenhält, geht vollends unter. Man kann auch am Staatsvertrag in der jetzigen Fassung belegen, daß das Gegenhalten genutzt hat. Die jetzige Fassung des Staatsvertrages unterscheidet sich beispielsweise in der Frage von Tarifautonomie, Streik und Aussperrung maßgeblich von ersten Entwürfen. Das ist nicht vom Himmel gefallen. Das geht auf die DDR-Seite und den DGB zurück. Gegenvorstellungen, meinetwegen auch Utopien, wie es ja das Grundgesetz von 49 auch gemacht hat, sollte man nicht aufgeben. Und in diesem Zusammenhang gehören neben Streik und Aussperrung auch die Frage des Wahlrechtes für Ausländer, und zwar nicht nur des kommunalen, es gehört auch dazu, daß das Asylrecht nicht verwässert wird. Und es gehört auch die parlamentarische Richterwahl auf allen Ebenen dazu.
Die Verfassungsdebatte ist allerdings die übernächste Debatte. Im Moment steht die Verabschiedung des Staatsvertrages zur Debatte und dann die solidarische Hilfe, nicht im imperialer Manier. Solidarität - das ist in der Vergangenheit die Stärke der Linken gewesen. Und es wäre sehr schlecht, wenn die Linke in der Bundesrepublik, und das heißt für mich einschließlich der SPD, dastünde als Partei der Nichtsolidarität und der Nicht-Einheit, wenn die Menschen in der DDR und auch die SPD dort die Vereinigung wollen.
Mazur: Ich denke auch, daß wir den Kampf in der Bundesrepublik aufnehmen müssen. Aber es ist norwendig, daß wir auch in der DDR die Verfassungsdebatte eröffnen. Wir müssen den Menschen in der DDR klarmachen, was auf sie zukommt, wenn sie ein fast unverändertes Grundgesetz übernehmen. Ich kann ja verstehen, daß die DDR-Bürger jetzt das Gefühl haben, das Grundgesetz ist besser als das, was wir hatten, aber: Man muß Ihnen klar machen: Paßt auf. Ihr kauft Euch beispielsweise auch die Notstandsgesetzgebung ein.
Es scheint aber eher so, daß in den kommenden Jahren, im kommenden Jahrzehnt, die ökonomischen Fragen bestimmendend sein werden.
Böttcher: Einer der Fehler in der Diskussion ist, daß man nicht in der Lage war, heute Dinge zu denken, die sich vielleicht erst morgen oder übermorgen verwirklichen. Es wird immer durcheinander geworfen, daß heute Dinge gedacht, aber erst später Wirklichkeit werden. Es gibt im Moment nicht nur vordergründig, tatsächlich wichtigere Dinge.
Und die Impulse aus der DDR sind ja gekommen. Zum Beispiel Kriegs- und Zivildienst. Da müssen wir doch drüber hinausgehen: Die Wehrpflicht ist in der jetzigen Form nicht mehr zu halten, wie ich meine schon aus verfassungsrechtlichen Gründen.
Würdet Ihr folgender These zustimmen: Wenn die Debatte um den § 218, die ja im Moment am heftigsten geführt wird, so entschieden wird, daß das bundesdeutsche Recht sich durchsetzt, ist die Verfassungsdebatte verloren.
Böttcher: Ich möchte umgekehrt sagen: Wenn das kommt, dann gibt es soziale Aufstände, nicht nur in der DDR. Und das ist für mich der Grund dafür, daß ich nicht nur die Hoffnung, sondern auch die Vorstellung habe, daß es an diesem Punkt zu einer Rechtseinheit kommt im Sinne der jetzigen Regelung der DDR.
Fragen: Holger Bruns-Kösters
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