: HAUPTSACHE GESUND
■ Gila Almagor mit „Avihas Sommer“ im Hebbeltheater
Aviha lebt im Kinderheim, weil ihre Mutter krank ist. Sie wartet sehnsüchtig auf Post, die nur selten kommt: „Der Brief war schwer zu lesen. Die Schrift lief kreuz und quer und war nicht klar. Mit großer Mühe gelang es mir, den Inhalt zu entziffern. Die Wörter waren über das Blatt Papier verstreut. Ich füge eines zum anderen und baute die Sätze, die Mama geschrieben hatte. 'Ich bin wieder krank. Keine Sorgen machen. Behandlung sehr gut. Ich werde wieder gesund, zu Besuch kommen. Ich werde kommen und mein Mädchen sehen. Wird schön sein zusammen. Schreib mir viel.'„
Die bekannte israelische Schauspielerin Gila Almagor spielte am Sonntag und Montag im Hebbeltheater ihre eigene Geschichte. Avihas Sommer beschreibt eine kurze Zeit, die Mutter und Tochter gemeinsam in einem kleinen Ort in Israel verbringen. Henia, die Mutter, war im Zweiten Weltkrieg Partisanin und ist seitdem geistig verwirrt. Mehr erfährt man nicht von Henias Geschichte, denn der Sommer wird aus der Perspektive Avihas, des zehnjährigen Mädchens, geschildert.
Auch über ihren Vater weiß Aviha nicht viel. „Er ist vor deiner Geburt gestorben“, hat die Mutter gesagt, und Aviha grübelt über seiner Fotografie: „Gibt es das, daß ein Vater vor der Geburt seines Kindes stirbt?“
Mit einfachsten Mitteln - ihrem Körper und seiner Sprache, einigen wenigen Requisiten und sparsam eingesetzter Beleuchtung - schlüpft Gila Almagor in verschiedene Rollen. Sie spielt die Tochter, die Mutter, die Nachbarn und die Freundin Avihas.
Mitten aus einer Theateraufführung im Kinderheim wird Aviha herausgerissen. Ihre Mutter, die überraschenderweise aus dem Krankenhaus entlassen wurde, nimmt sie mit. Es ist ein schrecklicher Augenblick. Vor allen anderen ruft die Mutter: „Du lieber Gott, du bist ja voller Läuse! Was ist das hier, ein Konzentrationslager?“ Und das erste, was sie bei ihrer Ankunft im Dorf tut, ist, ihrer Tochter eine Glatze zu schneiden. Natürlich wird Aviha den ganzen Sommer über wegen ihrer Glatze verspottet - nicht weniger als Henia, die man abfällig „Partisansche“ und „Verrückte“ schimpft. Avihas Mutter gehört zu den vielen, die während der Nazizeit ein Trauma erlitten und in Israel nicht „eingegliedert“ werden konnten, weil die Gesellschaft es nicht schaffte, oder, wie Aviha es hier beschreibt, auch nicht wollte.
Henia bügelt für die Leute im Ort Wäsche, und Aviha muß sie austragen. Dabei lernt sie Maja Abrahamson kennen, die den Mädchen des Dorfes Klavierunterricht gibt. Auch Aviha möchte an den gemeinsamen Musikstunden teilnehmen, aber Maja schickt sie weg: „Zieh dir was Besseres an.“ Aber Aviha bekommt von ihrer Mutter nichts Besseres, sie versucht es ein zweites und ein drittes Mal, und ihre Sehnsucht nach Musik und dem Dazugehören ist so groß, daß sie sich in den Hof stellt und die Tochter von „Lady“ Abrahamson beschimpft: „Komm raus, Maja Abrahamson, Hure, Tochter einer Hure!“ Als Aviha daraufhin nur mit Wasser übergossen wird, schleudert sie einen Stein ins Fenster. Maja ist an den Augen verletzt und wird ins Krankenhaus gebracht, und der ganze Ort ist sich einig über „die Verrückte und ihre kriminelle Tochter“.
Aviha ist eine Kämpfernatur. Mit einer für eine Zehnjährige erstaunlichen Kraft erobert sie die Freundschaft Majas, die sie dann im Stich läßt. Als Maja aus dem Krankenhaus entlassen wird, veranstaltet Lady Abrahamson ein Freudenfest, zu der der ganze Ort eingeladen ist - außer Aviha und ihrer Mutter, die die Walzerklänge nur von fern hören. Die traurigste Stelle im Stück ist wohl die, als Henia ihrer Tochter zeigt, wie man Walzer tanzt, und mit gespielter Fröhlichkeit verkündet: „Wir haben einen Ball, und sie haben einen Ball. Hauptsache, alle sind gesund und zufrieden!“
Avihas Sommer ist mittlerweile schon vier Jahre alt Gila Almagor schrieb das Stück 1986 und produzierte selbst eine Verfilmung, die auf der Berlinale 1989 den Silbernen Bären erhielt. Auch letztes Jahr spielte sie das Stück in Berlin - aber nichts von ihren Bewegungen, Gesten und Worten wirkt routiniert, denn es ist ihr eigenes Leben. Gila Almagor kannte ihren Vater nicht, wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf und ging seit ihrem 17. Lebensjahr zur Schauspielschule. Selbst das Handicap, dem hebräischen Text nur durch die sehr gute deutsche Simultanübersetzung folgen zu können, konnte dem Stück nichts von seiner Wirkung nehmen.
Ayala Goldmann
„Avihas Sommer“ noch einmal am 22. Juni um 11 Uhr im Hebbeltheater
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