: Demagogischer Fötalismus
■ S T A N D B I L D
(AHA: Streitfall: Abtreibung, DFF 2, Mo. 18.6., 20.00 Uhr) „Kein einig Memmingen“ haben am Wochenende Frauen aus Ost und West in Bonn und Ost-Berlin auf Demonstrationen für die Abschaffung des Paragraphen 218 gefordert. Doch Memmingen ist überall, winkt schon von „drüben“ rüber: Der Deutsche Fernsehfunk besinnt sich auf seine demagogische Tradition und nutzt sie, um sich an den real existierenden Fötalismus im schwärzesten Teil des Westen anzuschleimen: Der Fötus lebt - die Frau muß ihn gebären.
Vom „Streitfall Abtreibung“ kann keine Rede sein: Die Mannschaft im Studio ist sich einig, demonstriert bereits „einig Vaterland“: Die Runde ist - das wird gleich offenherzig zugegeben - „dominierend maskulin“ und besteht aus „Vätern, denn die sind legitimiert, über Abtreibung zu reden“, stellt Vater-Moderator klar. Es sind aber Väter von ganz besonderer Art: Gynäkologen, die durch die Fristenregelung in der DDR zur „Vernichtung menschlichen Lebens gezwungen“ werden. Kinderlos, leider, ist der Moraltheologe im schwarzen Habit, aber der ist als Experte für „Liebe von zwei Menschen“ auch ein Berufener. Höflich -devot schaltet sich ab und zu eine Psychoanalytikerin ein „Kinder werden aber nicht immer in Liebe gezeugt“ - und sonst sitzen im Studio nur glückliche Mütter herum, die „dank der wunderbaren Beratung“ ihres Arztes „dann doch nicht abgetrieben“ haben: „Wir sind heute so froh über unseren kleinen Quirl, komm, zeig dich mal der Kamera.“
Im Studio-Hintergrund an der Wand erhebt ein Fötus flehend seine Händchen: die intra-uterin-Fotos von Lennart Nilsson, ins Übermenschliche vergrößert, und eine Papp-Justitia dräut über den Köpfen der Diskutierenden. Im Vordergrund spielt rätselhafterweise ein Mann mit einem Jungen Schach. Aus gutem Grund, wie man zum Schluß erfährt: „Der kleine Daniel“ - ein „großes Schachtalent“ - „hätte beinahe auch nicht unter uns sein können“, wenn nicht der Frauenarzt gewesen wäre, der dieses Leben vor Abtreibung gerettet hat.
Die Fristenlösung, die es in der DDR seit 1972 gibt, „ist ganz entsetzlich für die Ärzte“. Die mußten seither eine Stadt von der Größe Wernigerodes „zweimal entvölkern“, und „welches Krankenhaus-Team soll das bewältigen?“ Logisch, daß man da „nicht immer bloß über Frauen in Not nachdenken soll.“ Und überhaupt: „Wo gibt's denn sowas, daß jemand das Lebensnotwendige nicht hat?“, sagt der Moraltheologe in der Runde. „Ohne stichhaltige Begründung“ durften Frauen in der DDR die Fristenlösung „als Notbremse für kleine Pannen“ nutzen, und jahrelang wurden die Ärzte „diskriminiert“, wenn sie sich weigerten, „Unrecht am Leben“ zu begehen. Das muß jetzt endlich anders werden: Memmingen, mach hoch die Tür, die Brüder sind auf dem Sprung.
Sybille Simon-Zülch
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