piwik no script img

Traum einer wiedererwachenden Linken

■ betr.: "Bitte um Aufklärung", von Arno Widmann, "Für Christa Wolf" von Lew Kopelew, taz vom 14.6.90

betr.: „Bitte um Aufklärung“ von Arno Widmann, „Für Christa Wolf“ von Lew Kopelew,

taz vom 14.6.90

Während der zurückliegenden Monate seit der Wende in der DDR bin ich manches Mal an den Punkt gekommen, daß Trauer in der Pose der zurückschauenden Wehmut nicht mehr angebracht und einem konstruktiven Optimismus Raum zu geben ist. Gleichwohl scheint der Dialog über die Vergangenheit gerade erst zu beginnen, und auch der Beitrag von Widmann beweist nicht das Ende einer polemischen Kehrausdebatte. Von besonderer Bedeutung dabei ist die politische Stimmung, die eine scheinbar nur ästhetische oder kulturpolitische Dimension zu einem Paradigma nationaler Selbstbestimmung unter dem Dach des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland erhebt.

Die Rolle einer Christa Wolf für die deutsche Literatur undfür das Selbstbewußtsein der sich nun selbst bestimmenden BürgerInnen der DDR kann ich nicht besser hervorheben, als es Lew Kopelew in seinem in der taz von heute abgedruckten Brief getan hat, aus dem Arno Widmann vielleicht einen Teil seiner Fragen sich selbst beantworten kann. Die Entrüstung, mit der Widmann den unsäglichen Vorwurf der Geschichtsklitterung wiederholt und im Kontext hier Frau Wolf auch noch unterstellt, gemeint ist der Passus über Utopie als agens movens der DDR-Gründung, nehme ich ihm nicht ab, weil er weder eine auch nur anmerkende Begründung mitliefert, noch an anderer Stelle je geschichtliche Objektivität unter Beweis stellt, die er bei anderen vermißt. Mir fällt auch bei allem Bemühen um Sachlichkeit kein anderes Wort als „dumm“ ein zur Charakterisierung des Argumentationsgefüges, wenn Widmann ignorant abschätzig Christa Wolfs Begriff des Schmerzes mit „Tristesse“ und „Tränen“ in eine Aufzählung bringt und damit lediglich beweist, daß ihm der genuine Schreibanlaß einer Christa Wolf, wie er sich durch fast alle ihre Bücher und Texte seit Der geteilte Himmel zieht, nicht bekannt ist oder nicht wahrgenommen werden wollte.

Aber, und man verzeihe mir die Polemik, was soll ich von einem Schreiber halten, der in der gegenwärtig allenthalben politisch und sozial brisanten Lage ernsthaft (?) die kapitalistische Gesellschaft Bundesrepbulik wegen ihres hohen Lebenstandards als „realexistierende Utopie“ bezeichnet; daß er es sprachlich in der Rolle des Chronisten von Volkes Stimme tut, verändert Intention und Wirkung kaum, eignet sich hingegen vortrefflich zur Unterstützung eines schon lange nicht mehr so virulenten Antikommunismus, wie er in diesen Tagen auf höchster Ebene, etwa in der Volkskammer ebenso wie an bundesdeutschen Stammtischen wieder anzutreffen ist. Die administrativen Ankündigungen des Innenministers zur Beobachtung der PDS durch den Verfassungsschutz flankieren den antidemokratischen Handstreich der Volkskammer zu den Parteivermögen, von dem allein die PDS eine existenzbedrohende Wirkung befürchten muß.

Insofern träume ich an dieser Stelle doch noch einmal meinen Traum einer wiedererwachenden Linken, die nicht an der Hybris von Organisationsdebatten und -dogmen zerbricht, sondern sich der historischen Einsicht vergewissert, daß mit dem Kapital in keiner noch so gewendeten Form eine lebbare und lebensfähige menschliche Gesellschaft zu machen ist, seine Gesetze bleiben Gesetze der Akkumulation des Mehrwerts, das bedeutet weiterhin Wachstum und Ausbeutung, und auch eingefleischten Ökologisten dürfte es dabei an Phantasie nicht mangeln, auf wessen Kosten diese Gesetze funktionieren.

Folglich bleibt, trotz alledem und gerade jetzt eine breite und starke Bewegung des Widerstands auf der Tagesordnung, eine Bewegung, die man sich aufgrund der historischen Erfahrungen nicht mehr unbedingt als eine und als avantgardistische Vorhut vorzustellen hat, aber doch als bewußtes Bündnis, das im konstruktiven Streit jeden Millimiter politischen Bodens um der Utopie Erde willen verteidigen muß gegen die Realpolitiker, die unter den Sachzwängen ihres Auftrages alle Individualität begraben, die dieser Erde ein Gesicht leiht.

Christian Pieta, West-Berlin

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen