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Die Melancholie der Demokraten

■ Von Pascal Bruckner ist gerade bei Seuil in Paris „La melancholie democratique“ erschienen. Hier ein Auszug.

Am 15. Juni 1968 schreibt ein Professor der medizinischen Fakultät zu Paris an die Zeitung 'Le Monde‘, um seiner Entrüstung Ausdruck zu geben; als ehemaliger Kommandant der Marineschützen während des Krieges habe er sich am 6. Juni, dem Tag der alliierten Invasion in der Normandie, zu den Feierlichkeiten am Triumphbogen begeben. Nachdem er mit seinen Kameraden die Flaggen mit dem Lothringer-Kreuz (de Gaulles, d.Red.) ausgerollt hatte, sei er zu seiner größten Überraschung von etwa hundert Jugendlichen, die zum gleichen Zeitpunkt auf den Champs-Elysees demonstrierten, als Faschist und Schuft beschimpft worden: „Ich möchte gern bescheiden darauf hinweisen“, schreibt er, „daß diese jungen Leute sich heute nur deswegen so aufführen können, weil andere, weil ihre Väter für dieses Recht teuer bezahlt haben. Sich als Faschist bezeichnen lassen zu müssen, wenn man, wie ich, an Seele und Körper fünf Kriegsjahre lang gegen Nazismus und Faschismus gelitten hat, ist nur schwer zu ertragen - zumal an einem Tag, an dem die Befreiung gefeiert wird.“

Wenn es einen Begriff gibt, der seit fünfzig Jahren eine derart rasante Karriere gemacht hat, daß er inzwischen ständig mißbraucht und seines Sinnes beraubt wird, dann wohl der Begriff „Faschismus“ (und die ihm ähnlichen Synonyme, mit denen er viel zu oft verwechselt wird). Für die kommunistischen Intellektuellen der fünfziger Jahre war die Freiheit der Heroen von Malraux und Camus „faschistisch„; der Gaullismus bedeutete für die Linke des Jahres 1958 die Rückkehr des Faschismus; die CRS (Sondertruppen der französischen Polizei, d.Red.) waren laut jenem berühmten Slogan („CRS-SA-SS“, d.Red.) SS-Leute und die französische Demokratie nach einer berühmt gewordenen Nummer der 'Temps Modernes‘ (Zeitschrift Sartres, d.Red.) von 1971 nur eine Variante der braunen Pest. Selbst die Sprache war faschistisch, wenn man Roland Barthes und seiner Antrittsvorlesung am College de France Glauben schenken möchte!

Kurz: Faschismus war all das, was der unmittelbaren Laune des Einzelnen zuwiderlief, jede Art von Autorität, von Vorschrift und Verbindlichkeit. Nachdem sich das politische Klima in Europa etwas beruhigt hatte, glaubte man sich dieser böswilligen Rhetorik entronnen. Aber nein, im Gegenteil: Es hat den Anschein, daß die kühlen Tugenden der Demokratie zum hitzigen Gebrauch der Wörter verlocken. Und es scheint, daß das Verschwinden des Marxismus als allgemeines Erklärungsmodell von Gesellschaften, weit entfernt davon, diese Tendenz zu bremsen, noch verstärkt hat. Denn mit ihm wurde der letzte Aufpasser, die letzte Sicherungskerbe quasi noch beseitigt. Mit dem Marxismus verlieren wir einen wesentlichen Trumpf: den kritischen Blick auf die Welt. Wenn es keinen äußeren Standpunkt mehr gibt gegenüber der Demokratie, gegenüber der Zukunft (wie es jenes „leuchtende Morgen“ war) und dem Ort (das „revolutionäre Paradies“), dann fehlt uns auf verzweifelte Weise ein Halt und ein Abstand, um uns selbst beobachten und verbessern zu können. Und nichts kann uns über diesen Verlust hinwegtrösten: Deswegen wuchern dort, wo der Marxismus sein Terrain aufgibt, Ersatzideologien, Religionen und frisch aufgepeppte Extremismen, die alle um seine Nachfolge wetteifern. Wenn man diese Welt nicht mehr im Namen einer anderen verurteilen kann, ist die Versuchung groß, sie en bloc zu verdammen: die Wut der Kritik gedeiht auf dem Kadaver der Idee vom möglichen Überwinden.

Die sechziger und siebziger Jahre hatten etwas Erfrischendes an sich: mit einer bislang unbekannten Lust schlugen sie die Tabus und Steifheiten der alten bürgerlichen Gesellschaft in Stücke, bevor dann die Mythologien, die bei dieser Umwälzung entstanden, wieder korrigiert werden mußten. Die bilderstürmerische Wut brachte einen lustvollen Eifer hervor, und noch die Zerstörung unserer eigenen Utopien (Linksradikalismus, sexuelle Befreiung) ähnelte einem Fest; es war unsere, auf einen kurzen Zeitraum konzentrierte, eigene kleine Aufklärung, ein wunderbarer Augenblick von Emanzipation und das schönste Abenteuer unserer Generation. Viele trauern dieser gepriesenen Zeit hinterher und bedauern, es zu etwas gebracht zu haben, viele, gerade unter den Intellektuellen, beklagen heute gerade das, was sie den revolutionären Turbulenzen einst entgegengestellt haben: die allgemeine Demobilisierung, der Rückzug in die Privatsphäre, weil sie verstanden haben, daß diese Loslösung sie auch verschlingen und überflüssig machen kann. Als hätte sich die Waffe ihres Sieges plötzlich in das Instrument ihrer Niederlage verwandelt.

Damit kein Mißverständnis aufkommt: es geht nicht darum, der Kritik zu entsagen. Der Verdienst des Okzidents bestand seit jeher darin, gegen sich selbst anzudenken und in seinem Herzen einen Feind einzuquartieren, der wider den Stachel löckte. Aber wenn die Kritik an sich selbst trunken wird, überschreitet sie eine Schwelle, jenseits derer sie unbrauchbar wird. Kritik wird durch ihre Übertreibung zunichte gemacht und unterscheidet sich schließlich durch nichts mehr vom schlimmsten Konformismus. Wen wundert es, daß diese Verirrung vor allem gewisse Teile der Intelligenzija trifft: nach dem Vorbild des Sokrates, der eine Bremse am Hals Athenes sein wollte, um sie am Ausruhen zu hindern, so ist der Intellektuelle ein ewiger Störenfried, der das Feststehende in die Krise bringt und dort Probleme herauskitzelt, wo alles in bester Ordnung zu sein scheint. Aber dieses schöne Unterfangen steht in ständiger Gefahr, zu wütendem Säbelrasseln herunterzukommen und überall einen Anlaß zur Polemik zu suchen. Die bewundernswerte Leidenschaft, alles in Frage zu stellen, wird dann zu einer Gegnerschaft ohne Gegenstand, zu einer absoluten Aversion: Der verletzte Messianismus wiederersteht in umgekehrter Form als Defätismus, der die Welt dem Abgrund nahe und dem Unglück geweiht sieht.

Worin besteht nun diese Verwirrung? Darin, daß in Friedenszeit eine Sprache des Krieges gesprochen wird, das heißt eine systematische Steigerung zum Extrem. Zu jedem Phänomen sucht man sich den gefühlsmäßig stärksten Begriff, weil es im Grunde nicht mehr darum geht, die Welt zu verstehen, sondern sie zu beurteilen, ja mehr noch: sie zu verurteilen. Unter diesen Bedingungen ist es nicht überraschend, daß die Vokabeln, mit denen unsere Gesellschaften beschrieben werden, immer eine größtmögliche Unterdrückung bezeichnen: „Gulag“, „Völkermord“, „Barbarei“ etc. Als wenn man daran verzweifeln würde, die Demokratie nur in der Sprache der Demokratie angreifen zu können, flüchten sich viele Denker mangels Besseren in das Zurückstoßen ihrer Zeit und in verbale Maßlosigkeit.

Pascal Bruckner

Übersetzung: Alexander Smoltczyk

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