Alles guckt gespannt nach Osten...

■ Von den Peripherien werden die KorrespondentInnen abgezogen / Der Süden wird aus den Schlagzeilen verdrängt / JournalistInnen von sieben Zeitungen diskutieren Folgen der Ost-West-Entwicklung die Medien

Erich B.Kusch (Präsident der Auslandspressevereinigung): Eigentlich sollte das Problem „Peripherie-Zentrale“ schon immer zu den Grundfragen das Journalismus gehören. Doch die Beschäftigung damit wird, speziell bei Auslandskorrespondenten, oft stark davon beeinträchtigt, daß die meisten von uns in den Hauptstädten leben und so nicht sehr häufig in die Provinz reisen - ohne deren Kenntnis man aber kaum etwas von dem Land, von dem man berichtet, versteht. Über diese prinzipielle Fixierung auf Metropolen hinaus haben wir in den letzten beiden Jahren aber auch noch die bekannten Revolutionen erlebt, in Europa wie in anderen Ländern, und die Zeitungen haben sich ganz auf diese Ereignisse konzentriert - die deutsche Frage, das Phänomen Gorbatschow, die Spitzentreffen, und das hat die Aufmerksamkeit zusätzlich von Fragen der Peripherien abgezogen.

Ein Beispiel aus unserem Arbeitsland hier, Italien: Wenn wir in den letzten Monaten eine Reise unternommen haben oder von den Redaktionen losgeschickt wurden, dann eher nach Malta, zum Gipfel Bush-Gorbatschow, als in eine entlegene Provinz Italiens.

Pavel Negoitsa (Korrespondent der 'Trud‘, Moskau): Die Frage ist wohl nicht unbedingt, ob man über die großen Ereignisse der internationalen Politik schreibt oder nicht, sondern von welcher Warte aus man schreibt. Natürlich muß man die großen globalen Probleme behandeln - aber mehr von der Warte des „einfachen“ Bürgers aus, der tagtäglich mit der Realität auskommen muß, die ihm die „große“ Politik beschert. Das bedeutet, daß wir im Grunde unentwegt in der Provinz unterwegs sein müßten, mit den Leuten dort reden, erkunden, was die politischen Entscheidungen für sie bedeuten, wie sie sich dem entziehen, wenn sie Angst davor bekommen. Eine Arbeit, die natürlich weniger Prestige bringt als ein Interview mit einem Minister oder dem Regierungschef. In unserer Zeitung gab es eine große Diskussion ganz zu Anfang der Perestroika. Wir gingen nahezu alle davon aus, daß das Wichtigste von nun an Kritik war, Kritik an Politikern, Kritik auch an uns selbst. Aber da war ein Redakteur, ein älterer Mann, der sagte: Richtig, daß wir kritisieren. Doch nach einem oder zwei Jahren werden die Leute die ständige Kritik sattkriegen - während es all die kleinen und großen Probleme des Alltags (also das, was wir hier „periphere Probleme“ nennen) auch nach fünf oder zehn Jahren Perestroika noch geben wird.

Tatsächlich ist es uns dann mit einer Linie zwischen Kritik und Aufnahme der alltäglichen Probleme gelungen, als einzige Tageszeitung an Auflage zuzulegen - von 18 auf 21,5 Millionen pro Tag. Während etwa die 'Prawda‘, trotz ihres vollen Einstiegs auf die Perestroika, einen Verlust von mehr als 40 Prozent auf weniger als fünf Millionen hinnehmen mußte und auch die 'Iswestja‘, nach einem vorübergehenden Anstieg, abzufallen beginnt. Daß die Redaktionen lieber große Politik als die Alltagsprobleme eines Arbeiters aufnehmen, kennen wir auch; ich denke aber, es ist eine der Aufgaben der Korrespondenten, sich da Gehör zu verschaffen. Zumindest um ein Gleichgewicht zwischen Peripherie und Zentralismus herzustellen.

Johannes v.Dohnanyi (Korrespondent der 'Weltwoche‘, Zürich): Ich gehöre zu jenen Journalisten, die bereits auf Abreise aus jenen Gebieten sind, die immer mehr zur Peripherie werden; ich gehe nach Singapur - unsere Zeitung schließt die Rom-Stelle. Genauso wie bereits die französische 'Liberation‘, die schweizerische '24 heures‘, wie ein Teil der argentinischen Presse, die doch traditionell engstens an Italien gebunden war; die schicken ihre Leute nun nach Berlin. Was wir in den letzten Monaten erlebt haben, war eine völlige Verschiebung des Zentrums Europas. Der Großteil der EG-Länder hoffte bis vor kurzem noch auf eine Umorientierung hin zu sich, so etwa Italien, Frankreich, Spanien, ganz allgemein der Süden. Dort liegt der größte Bevölkerungsanteil in Europa, viele Gegenden sind unterentwickelt, bieten einen noch ungesättigten Markt, haben dazu auch noch eine Brückenfunktion zur arabischen Welt. All das nützt nun nichts mehr, Länder wie Italien sehen sich seit der Ost-West-Umwälzung wieder zur Peripherie reduziert.

Da ist aber auch schon eine wichtige Frage: Warum muß Peripherie unbedingt etwas Negatives sein? Hat nicht gerade die Peripherie vieles, was Zentralen nicht bieten? Es ist die Frage, wie man mit dieser Situation umgeht. Italien zum Beispiel hat aus seiner speziellen Lage am Rande Europas längst nicht das gemacht, was es daraus machen könnte - und nun, bisher ganz konzentriert auf den Wunsch, das Zentrum vom Norden weg- und zu sich hinzuverlagern, fällt das Land ins Nichts, weil sich plötzlich alles Richtung Osten bewegt. Daß das zum Desaster wird, hängt aber auch damit zusammen, daß viele Länder intern ihre Peripherien vernachlässigt haben und nun nichts finden, worauf sie jetzt alternativ aufbauen könnten.

Emilio Drudi (Redakteur von 'Il Messaggero‘, Rom): Ich arbeite innerhalb meiner Zeitung für eine Provinz-Redaktion, die in Latina; und das war eine bewußte Entscheidung. Was v.Dohnanyi gesagt hat, bestätigt meine Einschätzung, daß es im Grund die „Provinz“ - als Peripherie - nur insoweit gibt, als die Leute sich dazu machen lassen. Tatsache ist, daß sich viele Gegenden und soziale Bereiche als „Peripherie“ und damit verlassen fühlen. Die Frage ist, was sie dagegen tun. Und da entdeckt man, wenn man in der „Provinz“ arbeitet, daß eben jene Lamentierer des Peripherie-Daseins in der Regel herzlich wenig dafür tun, aus dieser Situation herauszukommen.

Ihr habt zu Recht einen Ort wie Terracina für euren Kongreß gewählt, als eine der vielen Peripherien, die gar nicht weit ab von den Großstädten liegen und deren Probleme außerhalb kaum zur Kenntnis genommen werden. Aber genau hier könnt ihr auch studieren, daß die Menschen und speziell die Administratoren herzlich wenig für eine Änderung der Lage tun. Das Problem stellt sich daher für mich so: wie können wir eine Kultur schaffen, in der sich die Menschen nicht minderwertig und den großen Zentren untertan fühlen, sondern ihren Eigenwert herauskehren? In Bezug auf gesamteuropäische Veränderungen: wie kann man eine Mentalität schaffen, mit der die Bürger der Peripherie selbstbewußt und autonom mit auch fernen Strukturen wie etwa einer europäischen Regierung verhandeln und arbeiten? Natürlich fällt da auch der Presse eine enorme Aufgabe zu.

Thomas Schmid (Redakteur von 'die tageszeitung‘, Berlin): Unser Erscheinungsort, früher absolut Peripherie, hat derzeit zweifellos eine Mittelpunkt-Funktion, die Weltpresse schenkt der Stadt enorme Aufmerksamkeit. Die taz selbst nimmt dabei eine Sonderstellung ein: sie wurde 1979 gegründet, ohne fremdes Kapital aufgebaut, selbstverwaltet von ehemaligen 68ern, Umweltschützern, Mitgliedern der alternativen Bewegungen der 70er Jahre, in der Absicht, eine linksunabhängige Zeitung zu schaffen, die besonderes Gewicht auf soziale Probleme und jene Stellen legt, wo jene Politik entsteht, die uns dann beherrscht. Gleichzeitig lag seit je ein Schwerpunkt auch auf der Peripherie. Wobei es natürlich unzählige Probleme gibt: die Peripherie der Dritten Welt, die Peripherien der Industriestaaten und ihrer Hauptstädte, Sizilien, Portugal usw. Dazu kommen nun neue Peripherien: etwa diejenigen, die seit dem Kollaps der östlichen Länder entstehen. Derzeit überkreuzen sich diese Peripheien immer stärker. Da kommt, in Gestalt der Immigranten aus Afrika, die Peripherie der Dritten Welt in periphere Gegenden Italiens, oder, in Form des sogenannten Polen-Marktes, ein Strom aus dem ehemaligen Ostblock ins Zentrum Berlins. Von Dohnanyi hat vorhin gesagt, daß die Frage der Peripherie eine Frage der Wertung ist. So sehen wir - ohne dabei eventuelle Gefahren zu unterschätzen - etwa die Bildung neuer Gemeinschaften und die Überlagerung verschiedener Peripherien auch als Bereicherung unserer eigenen Kultur. Innerhalb künftiger Entwicklungen hat die taz eine besonders wichtige Aufgabe, waren wir es doch, die seit langem der Opposition in den östlichen Staaten besonders viel Raum gegeben haben und damit auch die Diskussion Peripherie Zentrale nun besonders intensiv weiterzuführen imstande sind.

Maddalena Tulanti (Redakteurin von 'L'Unita‘, Rom): Innerhalb meiner Zeitung bin ich zuständig für die Region Latium (vergleichbar etwa einem deutschen Bundesland, A.d.R.). Doch während ich keinerlei Schwierigkeiten habe, Artikel über Rom, gleich welcher Art, hereinzunehmen, sieht es sofort ganz anders aus, wenn es um die Provinzen drumherum geht. Da muß ich aber sofort dazusagen, daß das und nicht nur für uns - einfach auch eine Geldfrage ist. Wir können uns nicht einmal in allen fünf römischen Provinzen (Regierungsbezirken) eigene Redaktionen leisten. Das Problem Peripherie - Zentrale stellt sich auch ökonomisch; und das Argument ist oft, daß wir an der Peripherie ja sehr viel weniger Leser haben. Ich selbst halte diese Argumentation für falsch. Doch eine wirkliche Lösung habe ich auch nicht. Immerhin haben wir mittlerweile eine Art Notbehelf gefunden: Sonderseiten, gewidmet jeweils einem drängenden Problem in einer der Provinzen. Das schafft zusätzlichen Verkauf vor Ort, womit ein Teil der Geldfrage gelöst ist. Es hat aber auch den Sinn, den Lesern in der Hauptstadt zu zeigen, daß es diese Peripherien gibt und wo dort die Probleme liegen wenigstens einige davon. Das Ganze ist sicher nicht eine optimale Lösung, aber immerhin ein Ansatz.

Udo Gumpel (Korrespondent der 'Volkszeitung‘, Berlin): Mein Arbeitsgebiet beschränkt sich nicht auf Italien, ich berichte sehr viel auch aus anderen Ländern, etwa aus Lateinamerika. Dabei stoße ich überall auf ein merkwürdiges Phänomen: Peripherie ist vor allem eine Frage der Eigenbewertung. Das „Zentrum“ wird vor allem von den Menschen in der Peripherie „Zentrum“ genannt. Offenbar ist das vorrangig ein Problem derer, die hier leben - hier in Terracina oder in Lima oder in Argentinien. Doch es läge an ihnen zu erkennen, daß sie selbst im Zentrum stehen, nämlich im Zentrum ihrer Probleme. Nur dann können sie nicht nur eine neue, eigenständige Lösung ihrer sozialen, kulturellen, politischen Probleme einleiten, sondern auch die Zentren zur Aufmerksamkeit zwingen.

Das ist mitunter schwierig, auch weil die große Presse und mitunter auch die kleinere meist in den Metropolen angesiedelt ist und von der Provinz wenig Notiz nimmt. Daß man es schaffen kann, zeigt ein Beispiel, das auch im Ausland allerhand Aufmerksamkeit ausgelöst hat: die berühmten „Ligen“ in der Lombardei. Ich habe absolut nichts am Hut mit der politischen Ideologie dieser fremdenfeindlichen Gruppen. Aber die Tatsache, daß dies auch die Auflehnung einer ganzen Region gegen die Zentrale darstellt, hat Furore gemacht: Plötzlich wurde sichtbar, daß Regieren in Rom bisher automatisch die schweigende Zustimmung der Regionen vorausgesetzt hat. Zu lernen ist daraus: daß nur dann, wenn sich die Peripherie freimacht vom Komplex gegenüber den Metropolen, wenn sie sich selbst bewegt, auf die Mißstände zeigt, kämpft, Alternativen entwickelt, das Problem Peripherie - Zentrale in den Griff zu bekommen ist. Erst in dieser Dialektik können wir von der Presse den Beitrag leisten, zu dem wir sicherlich fähig und der Großteil von uns auch bereit ist.