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■ D I E A N D E R E N
Der Morgen
Die in Ost-Berlin erscheindende liberale Zeitung schreibt unter dem Titel „Reiner Tisch statt Verdrängung“:
(...) Warum tun wir uns so schwer mit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit, die jüngst in der Veröffentlichung von über 9.200 Adressen konspirativer Objekte (...) ihren bis dato höchsten Grad an Öffentlichkeit erreichte? Die Wahrheit ist hart. Vielleicht war es der Nachbar oder der Arbeitskollege, der uns verriet. (...) Wäre es nicht längst an der Zeit gewesen, daß auch der kleinste Stasi-Mann im Bekenntnis zu seiner Vergangenheit mit ihr bricht? Wäre die ehrliche Chance für einen Neuanfang nicht das befreiende Wort vor dem Freund, dem Nachbarn, dem Arbeitskollegen, als das schweigende Hinübermogeln in die Zukunft? Bedurfte es dazu erst dieser Liste? Der DDR-Bürger hätte seit den heißen Oktobertagen schon mehr als einmal Gelegenheit gehabt, am Spitzel nebenan seine Wut auszulassen. Er tat es nicht, und er wird auch diesmal Vernunft beweisen, wenn statt Verdrängung endlich Aufarbeitung zur Diskussion steht.
Der Morgen
In derselben Ausgabe heißt es zum gleichen Thema unter der Überschrift „Kein Verantwortungsbewußtsein“:
Der Sumpf wurde erneut überschwemmt. Diesmal durch Journalisten. (...) West-tazler wollten, Ost-tazler nicht. Aus gutem Grund. Die Gefährlichkeit einer aufkommenden Pogromstimmung besteht. Zu einer Zeit, da Stasi-RAF-Kontakte hochkommen, steigt nun auch diese Liste auf (...) Jahrelang blockierter Wohnraum, Millionen-Ausgaben und Spitzeltätigkeit aus längst vergangener Zeit rechtfertigen nicht die Preisgabe dieser explosiven Liste. Oder ist der Zeitpunkt wohlgewählt, will man die Menschen sich abreagieren lassen? Eines ist gewiß, es existiert nun schwarz auf weiß ein Sprengstoff mit nicht abzusehenden Folgen. Bisher blieb die Umwälzung ohne Selbstjustiz. Bricht sie nun hervor? Von Verantwortungsbewußtsein, gar Sachkenntnis merkt man hier nichts. Und nur diese Kriterien sind bei einer Geschichtsaufarbeitung anzusetzen. Journalisten sollten genau abwägen, wie sie mit dem ihnen zugespielten Material umgehen, auch ihres Berufsethos‘ wegen. Die Sensation spricht für die Zeitung, für die Folgen von ihr „keine Gewähr“. Vergangenheitsbewältigung a la taz ist unzumutbar.
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