: RAF-Aussteiger in der DDR und die Heuchelei-Orgie der Medien
Offener Brief an Hans-Jochen Vogel und Otto Schily / Christiane Ensslin und Klaus Jünschke fordern Ende der Vorverurteilung / Aussteiger-Hilfe - kein Verbrechen ■ D O K U M E N T A T I O N
Sehr geehrter Herr Schily, sehr geehrter Herr Vogel,
in den letzten Monaten konnte man den Eindruck gewinnen, daß die bundesdeutschen Journalistinnen und Journalisten etwas gelernt hätten: die zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilte Verena Becker wurde ohne jedes Medienspektakel entlassen und der erste Freispruch in einem RAF-Mordprozeß gegen Gabriele Tiedemann wurde moderat kommentiert. Doch mit der Entdeckung von RAF-Aussteigerinnen und -Aussteigern in der DDR wird man eines anderen belehrt. Die hysterische Berichterstattung der siebziger Jahre in Sachen RAF feiert unselige Urständ. Was sich da an unverhohlener Heuchelei äußert, ist sicher nicht nur medienimmanent zu erklären - was sich jetzt in den Medien artikuliert, ist eine bundesdeutsche Befindlichkeit und Empfindlichkeit, die tief in der deutschen Geschichte wurzelt.
Statt der Bevölkerung der DDR ihre Auseinandersetzung mit der Stasi und ihrer eigenen Geschichte zu ermöglichen, wird mit diesem Spektakel um die RAF-Aussteiger nicht nur das Angebot für Aussteiger aus dem Hause Boeden ad absurdum geführt - den Menschen in der DDR wird die für sie notwendige Auseinandersetzung mit der Stasi und ihrer eigenen Gefangenschaft in diesem unrealen Sozialismus verbaut.
Wir bitten Sie beide, diese Heuchelei-Orgie in den bundesdeutschen Medien beenden zu helfen, um zweier Ziele willen:
-die Auseinandersetzung mit der Stasi gehört der Bevölkerung der DDR;
-die RAF-Aussteigerinnen und -Aussteiger müssen freigelassen werden.
Warum Sie die richtigen Ansprechpartner für diese Intervention sind, belegt folgende Geschichte: Mit einigen Mitgliedern der RAF war ich in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1971 in einer Wohnung im Hamburger Stadtteil Poppenbüttel. Nach Mitternacht verließen Ulrike Meinhof, Margit Schiller und Gerhard Müller die Wohnung. Schon nach wenigen Minuten berichtete Irmgard Möller, die den Polizeifunk abhörte, den in der Wohnung Verbliebenen von einer Schießerei vor der Haustür. Kurz darauf kam Gerhard Müller in die Wohnung zurückgestürzt und sagte, noch ganz außer Atem, er haben einen „Bullen“ erschossen. Es handelte sich um den Polizeibeamten Norbert Schmid.
Sein in dieser Nacht mit auf Streife befindlicher Kollege Heinz Lemke identifizierte Gerhard Müller nach dessen Festnahme im Frühjahr 1972 als den Täter.
In dem fünf Monate dauernden Hungerstreik von September 74 bis Februar 75 ist Gerhard Müller zusammengebrochen und legte ein Geständnis ab. Seine Aussagen wurden von der Hamburger Polizei in der Sonderakte 3ARP74/75I festgehalten.
Im Prozeß gegen Gerhard Müller und Irmgard Möller vor dem OLG Hamburg wurde Müller nur zu zehn Jahren verurteilt. Zu einer Verurteilung wegen Mordes kam es nicht. Irmgard Möller wurde wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu viereinhalb Jahren verurteilt. Irmgard Möller sitzt heute im 18. Haftjahr in der Frauenhaftanstalt Lübeck-Lauerhof.
Daß einer, der einen Polizisten ermordet hat, nicht wegen Mordes verurteilt wurde und auch seine Zeitstrafe nur halb abmachen mußte und statt dessen Irmgard Möller nicht nach viereinhalb Jahren entlassen wurde, sondern heute immer noch wegen einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe sitzt, ist, wie Sie wissen, darauf zurückzuführen, daß sich Gerhard Müller zum Kronzeugen gegen seine früheren Freunde machen ließ.
Als Gerhard Müller als Belastungszeuge gegen Gudrun Ensslin in Stuttgart-Stammheim auftrat, haben Sie ihn, Herr Schily, mit der Sonderakte 3 ARP 74/75 I konfrontiert. Als Verteidiger von Gudrun Ensslin haben Sie versucht nachzuweisen, daß sich Gerhard Müller dazu hergibt, die Beweislücken im Stammheimer Prozeß zu schließen - als Gegenleistung dafür, daß ihm der von ihm selbst gestandene Polizistenmord „geschenkt“ wurde.
Sie sind damit nicht weit gekommen. Das Kölner Oberverwaltungsgericht hat zwar die Akte weitgehend freigegeben - aber nicht die entscheidenden 15 Seiten. Der damalige Generalbundesanwalt Buback hatte erreicht, daß Sie, Herr Vogel, als ehemaliger Bundesjustizminister, die Akte mit einem Sperrvermerk versahen. Der Journalist Stefan Aust hat erfahren, daß Generalbundesanwalt Buback in diesem Zusammenhang bei einem Gespräch in der Bundesanwaltschaft gesagt haben soll: „Wenn diese Akte bekannt wird, können wir alle unseren Hut nehmen.“
Margit Schiller schilderte als Augenzeugin im Prozeß in Stammheim, wie Gerhard Müller den Polizeibeamten Norbert Schmid erschoß, auch dies blieb für den Täter folgenlos.
Sie beide, Herr Schily und Herr Vogel, haben heute die Möglichkeit, zu bestätigen, daß der damals aufgrund von Zeugenaussagen und aufgrund seines eigenen Geständnisses überführte Polizistenmörder Gerhard Möller nicht verurteilt wurde, weil sich in der Bekämpfung des Terrorismus die Auffassung vom „Wohl der Bundesrepublik Deutschland“ weit über die Grenzen des Rechtsstaats ausgedehnt hatte.
Seit 14 Tagen erleben wir in den bundesdeutschen Medien wieder einen Vorverurteilungs-Exzeß. Obwohl offenkundig ist, daß es sich bei den Festgenommenen um RAF-Aussteiger handelt, also um ehemalige Terroristen, wird nur von Terroristen oder allenfalls von mutmaßlichen Terroristen gesprochen und geschrieben. Der DDR beziehungsweise der Stasi wird vorgeworfen, sie habe mit Mördern zusammengearbeitet. Wenn es tatsächlich so wäre, wenn einige der Festgenommenen an Tötungsdelikten beteiligt gewesen sein sollten, dann bleibt dennoch festzustellen, daß der erste Deal mit einem Mörder aus der RAF ohne jede gesetzliche Grundlage durch bundesdeutsche Behörden zustande kam. Darüber hinaus muß festgehalten werden, was eine Mehrheit in dieser Gesellschaft in jahrelangen mühsamen Auseinandersetzungen schon begriffen hat: Ein Ende des Terrorismus muß dadurch erreicht werden, daß den gesuchten RAF-Leuten, auch den wegen Tötungsdelikten gesuchten, ein gangbarer Rückweg eröffnet wird. Wenn Herr Boeden das mit seinem „Aussteiger-Programm“ nicht vorhatte, was wollte er dann? Hat der Stasi in dieser Sache etwa gemacht, was die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden nicht selbst wollten?
All dieser jetzt wieder in den Medien zum Ausdruck kommende Haß, dieser Vernichtungswille - das läßt sich nicht mit dem „Abscheu vor den Verbrechen der Terroristen“ erklären. Es ist Ausdruck der fortdauernden Abwehr in die Einsicht der eigenen Anteile an der Geschichte des bundesdeutschen Terrorismus. Die Täter sollen nicht zu Opfern gemacht werden, aber diese Gesellschaft muß ihren Anteil an der Geschichte annehmen.
Es geht auch nicht um die Verharmlosung der Verbrechen der Stasi - die Bevölkerung der DDR möge diese Geschichte, diese ihre eigene Geschichte radikal aufarbeiten. Die Stasi-Hilfe für die RAF-Aussteiger zu einem Leben ohne Straftaten war kein Verbrechen.
Klaus Jünschke, Christiane Ensslin
Klaus Jünschke gehörte einst zur Gründungsgeneration der RAF. Er saß über 16 Jahre im Knast und war der erste Ex -RAFler der - zu lebenslanger Haft verurteilt - begnadigt worden ist. Christiane Ensslin ist Journalistin. Sie hat sich intensiv mit der RAF-Geschichte auseinandergesetzt und lange über den vermeintlichen Selbstmord ihrer Schwester zusammen mit Andreas Baader und Jan Carl Raspe im Herbst 1977 im Hochsicherheitstrakt in Stuttgart-Stammheim recherchiert.
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