: „...ein Beitrag gegen die Verdrängungstendenz“
■ taz-Umfrage zur Debatte über die Veröffentlichung der Liste ehemaliger Stasi-Wohnungen und -Objekte in der DDR / Mehlhorn: „Schon zu viel unter den Teppich gekehrt“
Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forum und Volkskammerabgeordneter des Bündnis 90
Ich stehe zwischen den beiden kontroversen Positionen für beziehungsweise gegen die Veröffentlichung der Listen. Die Kontroverse ist klar. Auf der einen Seite die Angst, es könne zu Gewalttätigkeiten kommen oder Personen könnten unter Druck geraten. Andererseits gehört es zum westlichen Journalismusverständnis, solche Informationen zu veröffentlichen. Ich persönlich glaube nicht, daß es in größerem Ausmaß zu Gewalttaten oder irrationalen Reaktionen kommen wird. Aber natürlich muß man immer mit Leuten rechnen, die irrational handeln. Was für die Veröffentlichung spricht, ist die Tatsache, daß das Unbehagen, das mit der Unkenntnis oder bloßen Vermutungen über Stasi-Adressen einhergeht, durch die Veröffentlichung aufhört. Trotzdem: Ich sag da weder ja noch nein, ich verstehe beide Argumente.
Wolfgang Ullmann, Mitbegründer von Demokratie Jetzt und Volkskammervizepräsident.
Ich verstehe die Befürchtungen, andererseits bleibt festzuhalten, daß die meisten dieser Wohnungen schon vorher bekannt waren. In Einzelfällen hat es auch vor der Veröffentlichung Aggressionen gegen Stasi-Objekte oder -Mitarbeiter gegeben. Meine Devise in Sachen Staatssicherheit war immer: Aufklärung ist das Sicherste. Allerdings hoffe ich, daß diese Listen auch exakt sind. Bei persönlichen Daten über Stasi-Mitarbeiter wäre ich allerdings gegen eine En-bloc-Veröffentlichung.
Ludwig Mehlhorn, Mitbegründer von Demokratie Jetzt
Ich bin der Meinung, daß in Sachen Stasi-Vergangenheit schon zu viel unter den Teppich gekehrt worden ist und zuviel Leute schon die Möglichkeit hatten, sich neu zu etablieren. Ich bin grundsätzlich dafür, daß diese Liste veröffentlicht worden ist. Man muß dabei auch berücksichtigen, daß die politische Entwicklung in eine Richtung geht, die der Verdrängung der Vergangenheit Vorschub leistet. Das betrifft nicht nur die Stasi, sondern generell die DDR-Vergangenheit. Die schnelle Einheit wird auch deshalb von den meisten Menschen hier gewünscht, weil sie dadurch ihre bisherige Existenz vergessen wollen. Die Veröffentlichung der Listen ist sicher ein Beitrag gegen diese Verdrängungstendenz, ohne daß ich diesen Beitrag überbewerten möchte.
Die Befürchtung der Selbstjustiz halte ich im übrigen für sehr gering. Die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit spricht nicht dafür.
Jutta Seidel, Mitbegründerin des Neuen Forum
Ich habe schon Angst, daß durch die Veröffentlichung eine Selbstjustizkampagne losgeht. Ich find die Form der Veröffentlichung in der taz nicht in Ordnung, weiß aber andererseits auch nicht, wie man mit solchen Listen umgehen soll. Ein zusätzliches Problem ist, daß in der Liste ganz sicher nicht alle Orte aufgeführt sind, die die Stasi benutzt hat. Unsicher bin ich auch darüber, wie exakt diese Liste ist. Die Angst, die da jetzt verbreitet wird, finde ich nicht gut.
Roland Jahn, Aktivist der DDR-Friedensbewegung, 1983, gewaltsam ausgebürgert
Ich finde es sinnvoll, diese Listen zu veröffentlichen, da sie ein Teil der dringend nötigen Aufarbeitung der Stasi -Vergangenheit darstellen. Dieser Dienst ist geheim, und er kann nur aufgelöst werden, indem er öffentlich gemacht wird. Die Zeiten, in denen Informationen der Bevölkerung vorenthalten worden sind, sollten endgültig vorbei sein. Bei denjenigen, die sich jetzt gegen die Veröffentlichung stellen, wirkt meiner Meinung noch immer ein stalinistisch geprägtes Journalismusverständnis nach. Das erinnert mich doch stark an die Zeiten, in denen es hieß: was dem Klassenfeind nutzt, darf nicht veröffentlicht werden. Es ist ein elitäres Denken, daß Informationen dem „Pöbel“ nicht zugemutet oder anvertraut werden dürfen. Genau von diesem elitären Denken war auch der Versuch der SED bestimmt, ihren eigenen Staat aufzubauen.
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