Zehn Monate Knast für den falschen Nikodem

■ Weil er freiwillig mit seinem Bruder im Tegeler Knast Rollen tauschte, wurde Marek S. wegen Gefangenenbefreiung verurteilt / Justizbeamte hatten zwei Monate lang nichts gemerkt / Die Befreiungsaktion wertete das Gericht allerdings als nur „durchschnittlich raffiniert“

West-Berlin. Zehn Monate Knast - und keiner, der ihn austauscht. Weil er zwei Monate unerkannt für seinen Bruder im Gefängnis saß, verurteilte ein Moabiter Schöffengericht gestern den 32jährigen Marek S. zu zehn Monaten Haft ohne Bewährung wegen Gefangenenbefreiung. Das Gericht glaubte dem Angeklagten, daß er aus Sorge wegen eines angedeuteten Selbstmordversuchs des Bruders in dessen Rolle geschlüpft war.

Am 4. Dezember hatte Marek im überfüllten Besucherraum der Justizvollzugsanstalt Tegel mit seinem inhaftierten Bruder Nikodem einfach die Mütze getauscht und sich statt seiner in die Zelle zurückführen lassen (die taz berichtete). Die Wachbeamten merkten zwei Monate lang nichts, einige spielten in dem Glauben, Nikodem S. vor sich zu haben, sogar Tischtennis mit dem falschen Knacki.

Die Anklagevertretung ging im Prozeß gegen Marek allerdings davon aus, daß der Pole seinem Bruder zur Flucht verholfen hatte, damit dieser in Freiheit „seine Aufgaben gewinnbringend fortsetzen“ könne. Gemeint war damit: Autos zu stehlen und nach Polen zu verschieben. Wegen Diebstahls eines Fahrzeugs nach der sogenannten Tankdeckelmethode hatte der Mann in Haft gesessen. Im November war gegen ihn ein neuer Haftbefehl wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung im Zusammenhang mit derartigen Autoschiebereien erlassen worden. Das Gericht nannte hingegen als Hauptmotiv die Sorge um den Bruder, wertete aber strafschärfend, daß hier jemand befreit wurde, dem erhebliche Straftaten vorgeworfen werden.

Diese seit Jahren einzigartige Gefangenenbefreiung aus einer Berliner Haftanstalt mochte das Gericht allerdings nur mit Geringschätzung bewerten: Die Aktion sei lediglich „durchschnittlich raffiniert“ gewesen. Überdurchschnittliche Raffinesse wollte das Gericht allerdings auch den Justizbeamten nicht zuschreiben: Laut Urteilsbegründung haben diese ein erhebliches Desinteresse gegenüber der Persönlichkeit von Gefangenen aufgezeigt. Anders sei es nicht denkbar, daß Beamten, die jemanden zwei Monate fast täglich sehen, entgehe, daß hier jemand nicht mehr dieselbe Person sei. Einem Kripobeamten, der den „richtigen Gefangenen“ vernehmen sollte, ist der Rollentausch demgegenüber auf Anhieb aufgefallen - trotz der Tarnungsmütze.

Unklar blieb bis gestern, ob trotz der nur „durchschnittlichen Raffinesse“ dem falschen Nikodem die Zeit angerechnet wird, die er für den richtigen schon abgesessen hat.

dpa/taz