: Letzte Spuren oder Wiedergeburt an der Wolga?
Die Allunionsbewegung „Wiedergeburt“ fordert territoriale Autonomie für die deutschstämmige Bevölkerung der Sowjetunion / Ein deutsch-sowjetischer Hochschulkongreß in Kassel / Wird sich die kulturelle Eigenständigkeit der Rußlanddeutschen verlieren, wenn die Wiedereinrichtung der „Wolgarepublik“ scheitert? ■ Von Anita Kugler
Für Konstantin Ehrlich, Chefredakteuer der in Kasachstan erscheinenden deutschsprachigen Zeitschrift 'Freundschaft‘, ist die Sache ganz klar. Die Deutschen in der Sowjetunion können ihre „kulturelle Identität“ nur bewahren, wenn sie einhergeht mit einer „staatlichen Einigung“. Und die soll an der unteren Wolga, auf dem Gebiet der ehemaligen „Autonomen Sozialistischen Republik der Wolgadeutschen“, verwirklicht werden. „Die Rußlanddeutschen“, sagte er kürzlich auf einem deutsch-sowjetischen Hochschulkongreß in Kassel, „sind ein eigenes Volk, eine eigene Nation, bloß ohne Territorium“ aber sie werden seit 1941 als „ethnische Minderheit“ behandelt, verfolgt und diskriminiert. „Die Wiederherstellung der Wolgarepublik wäre nichts anderes, als ein Zeichen der Gleichberechtigung für die Deutschen im Sowjetischen Vielvölkerstaat.“
Konstantin Ehrlich ist einer der Sprecher der vor anderthalb Jahren gegründeten Allunionsbewegung „Wiedergeburt“. In seiner Zeitschrift gibt er den „Autonomisten“ breiten Raum. Aber die Auflage ist gering, 15.000. Und das Ziel ist unter den in der Sowjetunion verstreut lebenden zwei Millionen Deutschen ebensowenig unumstritten wie in der Bewegung selbst. „Die Autonomisten sind doch alles Ungläubige“, kommentierte in Kassel eine aus Omsk ausgereiste baptistische Rußlanddeutsche den Streit der Funktionäre über die Wolgarepublik.
In der Tat mag die Auseinandersetzung akademisch erscheinen, denn eigentlich ist die Sache schon entschieden. Ende April beschloß der Oberste Sowjet, die staatliche Autonomie für die Rußlanddeutschen vorerst zu verschieben. Der Beschluß wurde gefaßt, nachdem die „Nationalitätenkommission“ eine „Aufklärungsreise“ in die ehemaligen wolgadeutschen Städte Saratow, Engels und Marx unternommen hatte.
Ein Mitglied dieser Kommission, der stellvertretende Bildungsminister der Sowjetunion, Wladimir Schadrikow, war ebenfalls Gast der Kassler Hochschulkonferenz. Er begründete die ablehnende Haltung der Kommission mit der angespannten Lage in Litauen und mit „antideutschen Ressentiments“ im Wolgagebiet. „Wir wollen kein zweites Berg-Karabach“. Vorstellbar, wenn auch noch nicht beschlossen, sei aber eine „diffuse Autonomie“, sagte er, etwa in der Form, daß „deutsche Dörfer in verschiedenen Siedlungsgebieten eine Art Selbstverwaltung bekommen“. Die meisten Sowjetdeutschen wollten doch bleiben, wo sie sind: „Die Wolgarepublik ist ein Mythos einzelner Funktionäre.“ Beraten wird gegenwärtig immerhin eine „kulturelle Autonomie“, das heißt, „deutsche Schulen, ein deutscher Studiengang an der Universität und regionale Kulturzentren“.
Vieles spricht dafür, daß die antideutschen Demonstrationen in Saratow, auf die sich die Kommission vor allem beruft, von Gebietskommissaren eigens für die Expertenkommission inszeniert worden sind (siehe das nebenstehende Interview, d.R.). Die Moskauer Wochenzeitschrift 'Megapolis‘ veröffentlichte in dieser Woche einen offenen Brief von Alexander Kitschichin von der KGB-Abteilung „Schutz der sowjetischen Verfassung“ an Staatspräsident Gorbatschow. Darin hieß es, daß der Saratower Parteiapparat eine mögliche Wiederherstellung der Autonomie „systematisch sabotiert“. Alle Veröffentlichungen, die sich mit dem Autonomieproblem beschäftigen, seien verboten worden, während gleichzeitig für antideutsche Propaganda „grünes Licht“ gegeben wurde. Ähnliches berichtete in Kassel auch der in Saratow lebende Literaturprofessor Ilja Gorelow. In den Städten werde verbreitet, daß die „Autonomisten aus der DDR ausgewiesene Kriminelle sind, oder Faschisten, die nachholen wollen, was Hitler versäumt hat“.
Die „Wiedergeburt“ wird die Expertise der Nationalitätenkommission und die Augenzeugenberichte aus Saratow genauestens überprüfen. Klarheit über den zukünftigen Kurs der Bewegung, soll eine zentrale Konferenz in Moskau am 18.Juli bringen. Die Wahl der Delegierten, von der Ukraine bis zur Altai-Region ist seit Wochen im Gange. Mehr als 400 Sprecher werden erwartet.
Drei Themen sollen auf der Tagesordnung stehen. Erstens, was tun gegen einen eindeutig ablehnenden Beschluß des Obersten Sowjet? Zweitens, gibt es Möglichkeiten, über eine staatliche Selbständigkeit in einem anderen deutsch besiedelten Gebiet zu verhandeln? Und drittens, kann die von der Nationalitätenkommission entwickelte Perspektive einer „kulturellen“ statt „staatlichen“ Selbstständigkeit die Zukunft der Rußlandeutschen in der Sowjetunion sichern?
Für Konstantin Ehrlich kommt die „kulturelle Autonomie“ ohne ein selbständiges Gebiet an der Wolga überhaupt nicht in Frage: „Die kulturelle Autonomie ist eine kulturelle Agonie.“ Auf der Konferenz werde über „das Sein oder Nichtsein“ der Deutschen in der Sowjetunion entschieden. Ein lebendiges Rußlanddeutschtum sei nur möglich, wenn das Land der Vorväter den Enkeln zurückgegeben wird. So eindeutig wie Ehrlich äußern sich aber nicht alle Sprecher der „Wiedergeburt“. Für Hugo Wormsbecher etwa, Chefredakteur der in Moskau erscheinenden Monatszeitschrift 'Heimatliche Weiten‘, wäre ein anderes Gebiet, ob in Kalliningrad, Kasachstan, Sibirien oder im Ural, durchaus eine Perspektive. Der Vorstand der Wiedergeburt vertrete vorrangig nur die Interessen der deutschen Minderheit, die noch in der Wolgarepublik geboren sind, argumentierte er kürzlich in dem einflußreichsten deutschsprachigen Blatt in der Sowjetunion, 'Neues Leben‘. Die Realisierungschancen schätzt er aber „gleich null“ ein, und je länger die Debatte über eine alternative Republik geführt wird, desto absurder werden die Vorschläge. „Bald wird jemand Alaska vorschlagen“, meinte er. Für viel wahrscheinlicher hält es Wormsbecher, daß die Rußlanddeutschen entweder ihre eigene Identität aufgeben und sich in ihre Umgebung assimilieren, oder daß sie, um ihre ethnische Besonderheiten zu retten, in die Bundesrepublik auswandern werden.
Die Abstimmung mit den Füßen halten auch die beiden Sprachforscher Harald Wydt und Peter Rosenberg von der Freien Universität Berlin für die wahrscheinlichste aller Lösungen. Die Ausreisewelle, so die Bilanz ihrer Forschungsreise zu den Rußlanddeutschen, hat ihre „eigene Dynamik“ entwickelt. „Man geht, weil andere gegangen sind.“ Wenn alle Hoffnungen auf ein gleichberechtigtes und deutsches Gemeindeleben in der Sowjetunion scheitern, die Diskriminierungen vor allem in Mittelasien weiter anhalten und die Sowjetunion das schon lange angekündigte Paßgesetz verabschiedet, dann „wird es in der Bundesrepublik sehr eng werden“.
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