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„Stasi-Listen einsehen? Das wäre Bürgerkrieg“

Entgegen offizieller Verlautbarungen erhalten die Einwohner Potsdams keine Einsicht in amtliche Listen mit Ex-Stasi- Objekten / Von Pontius zu Pilatus geschickt / Erst angelogen, dann abgewimmelt / Am Ende eine Entschuldigung  ■  Aus Potsdam Petra Bornhöft

Ausnahmsweise staut sich der Verkehr an der Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam nicht. Trotzdem nimmt Norbert Peter (Name geändert, Red.) den Fuß vom Gaspedal, schaut in den Rückspiegel. Es naht kein Auto von hinten. Seine Augen scheinen etwas anderes zu suchen. Vergangenheit. Fünf Stunden war der gebürtige Potsdamer, der nach 49 Ausreiseanträgen 1983 seine Geburtsstadt verlassen konnte, seiner persönlichen Geschichte auf der Spur. Er hatte „von amtlicher Stelle“ erfahren wollen, ob die Stasi in dem Haus Wilhelm-Pieck-Straße 116 - Peter lebte hier ein Vierteljahrhundert - tatsächlich eine konspirative Wohnung nutzte. Sie tat es. Unglaublich indes, wie schwierig es ist, diese Tatsache den Bürokraten zu entlocken, deren „tägliche Praxis“ es laut DDR-Innenministerium ist, Bürgern jede gewünschte Auskunft zu geben.

Davon ahnte Norbert Peter nichts, als er vergangene Woche in der Wilhem-Pieck-Straße seine Mutter besuchen wollte. Im Hausflur stutzte er. Am Schwarzen Brett hing eine Kopie der taz-Veröffentlichung mit den ehemaligen Stasi-Objekten. Rot unterstrichen das vierstöckige Haus, das er gerade betreten hatte. „Konspirative Wohnung, Abteilung XX“ (politischer Untergrund) stand da. Die MieterInnen im Vorder- und Hinterhaus hatten schon darüber geredet, denn die Zettel steckten auch in jedem Briefkasten. Norbert Peter läßt die Sache keine Ruhe.

Bürokratenstuben

Er sucht Gewißheit. Zunächst beim Rat des Bezirkes. „Zimmer 130“ schnarrt die Pförtnerin. Dort läuft eine „Dienstberatung“. Ein neuer Tip führt zu einer Tür mit dem Schild „Kirchensektor“. Zwei Zimmer weiter fällt der Name „Neumann“. Herr Neumann sitzt außerhalb in einer Baracke. Ex -Oberstleutnant Neumann, er diente in der gleichen Einheit wie der Wehrpflichtige Peter, verfügt über eine Liste mit ehemaligen Stasi-Immobilien, „die dem Rat des Bezirkes angeboten wurden“. Sagt er, und blättert, ohne die Besucher einen Blick auf die geklammerten Zettel werfen zu lassen. „Gehen Sie zur Hegelallee, Haus 6.“

Den Gebäudekomplex Hegelallee 6/7 und 8-10 kennt Norbert Peter zur Genüge. Früher war es die Bezirksverwaltung der Stasi, heute beherbergt die Anlage 38 medizinische Einrichtungen, das Arbeitsamt und das Kreisgericht. Im Haus 6, Hintereingang, zweiter Stock, residiert der „Arbeitsstab des staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS“ (Stasi -Ministerium plus Nachfolge-Behörde). Dessen Leiterin, Frau Szengel, „hat eine Beratung“. Die dauert.

Stasi unter Datenschutz

Im Warteraum erzählt Norbert Peter, daß er schon als Jugendlicher weg wollte von Potsdam. Pionierorganisation, Jugendweihe, FDJ - er entzog sich. Es gefiel ihm einfach nicht in der DDR. Als seine Clique verbotenerweise westdeutschen Touristen Potsdam zeigte, wurde sie verpfiffen. Verhöre, parallel Stasi-Anwerbeversuche im Interhotel. 1976 stellte der Elektriker Peter den ersten Ausreiseantrag. Absage auf Absage. Immer nur mündlich. Sieben Jahre lang. Er hat alle 49 Briefkopien abgeheftet.

In der Mappe liegen Fotos, auf denen Helmut Schmidt zwischen dem Ehepaar Peter steht. Beim Besuch des Alt -Bundeskanzlers in Potsdam hatte der DDR-Überdrüssige sich vorgedrängelt, Schmidt einen Zettel zugeschoben. Wenige Wochen danach durfte Peter ausreisen. Er schildert das spätere Treffen mit Schmidt in West-Berlin - da kommt die Sekretärin von Frau Szengel in den Warteraum. „Gehen Sie doch zu Herrn Bittner, der ist für die Objekte zuständig.“

Ob er die Liste des staatlichen Komitees einsehen könne, fragt Norbert Peter. „Nein“, antwortet Bittner, „die konspirativen Wohnungen stehen unter Datenschutz, sonst gäbe es ja Bürgerkrieg“. Aber Innenminister Diestel und seine beratende Kommission hätten doch gesagt, Auskunft und Einsicht seien möglich. Norbert Peter zeigt die Presseerklärung aus dem Innenministerium. „Herr Diestel hat uns nicht entsprechend orientiert“, entgegnet Bittner. Peter läßt nicht locker. Sein Gegenüber behauptet nun, er habe keine Liste mit konspirativen Objekten. Bittners Vorgesetzte, Frau Szengel, betritt das Zimmer.

Ruhe ist die oberste Pflicht

Die Mittdreißigerin erklärt, die taz-Veröffentlichung „stimmt nicht überein mit den Listen, die wir aus Berlin bekommen. Das staatliche Komitee prüft, wie die taz an die Listen gekommen ist“. Das interessiert Norbert Peter nicht, er will Auskunft über die Wilhelm-Pieck-Straße 116. Frau Szengel: „Sie bekommen keine Auskunft über konspirative Wohnungen. Es wäre Wahnsinn. Meine oberste Pflicht ist es, hier erstmal wieder Ruhe zu schaffen“. Mit ruhiger Stimme verlangt Norbert Peter „Aufklärung“, hält auch Frau Szengel die Presseerklärung unter die Nase. Das Papier bewirkt einen Sinneswandel. Frau Szengel wirft dem Untergebenen einen kurzen Blick zu, umgehend fischt der aus der Schublade einen zweiten, zusammengehefteten Papierstapel. „Ist das die Liste 4?“ fragt Frau Szengel. Sie ist es. Bittner fährt mit dem Finger über Buchstabenreihen, oberflächlich, nervös, ganz schnell und ohne Ergebnis.

Norbert Peter fragt nach dem Bürgerkomitee zur Auflösung der Stasi. Frau Szengel erwidert freundlich: „Da werden Sie auch nichts finden, die kriegen ihre Informationen von uns und sind auch verpflichtet, niemand einsehen zu lassen“. Das möchte der Alt-Potsdamer gern überprüfen. Er fährt zum Rat der Stadt. Dort verfügt das Bürgerkomitee über einen Raum. An der versperrten Tür steht: „Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden Tisches. Öffnungszeiten: montags 16.00-19.30Uhr“. Es ist Freitag mittag, und die Pförtnerloge im Rathaus weiß auch nicht weiter. Man scheint hier wie bei dem Bürgerkomitee wenig beunruhigt über den von der taz ausgelösten „Listenterror“, den die „sozialistische Tageszeitung“ 'Neues Deutschland‘ am gleichen Tag anprangert. (nicht ganz so demagogisch, Kolleschin Petra, taz-intern trubbelte es ja auch genug, d.Korr.)

Fräulein Müller ist weg

Der Redakteur des 'Morgen‘ im Ladenlokal an der Wilhelm -Pieck-Straße 116 fällt aus allen Wolken, als er von der vermeintlichen konspirativen Wohnung im Haus hört. Er schickt die taz zur Vermieterin nebenan. Eine nette, alte Dame öffnet: „Wir haben darüber geredet. Das kann nur Fräulein Müller im Hinterhaus gewesen sein. Die ist seit einem halben Jahr weg, ich wollte schon die Wohnung öffnen lassen. Aber sie hat die Miete bis Ende Juni über einen Mann bezahlen lassen.“ Wieso gerade Fräulein Müller? „Na, die hat erzählt, daß sie bei der NVA in Eiche Golm arbeitet und da war doch die Stasi“. Dort, wo heute viele DDR-Fahnen aus den Fenstern der neuen Pädagogischen Hochschule flattern, stand früher das Gebäude der „Juristischen Hochschule der Stasi“, wie der Pförtner sagt. Der Komplex grenzt unmittelbar an eine NVA-Kaserne, die Norbert Peter auch während seines Grundwehrdienstes kennenlernte. Fräulein Müller, seit 1982 wohnhaft in der Wilhelm-Pieck-Straße 116, lebte „sehr zurückgezogen“, wie die Vermieterin berichtet. Weil die Miete bis dato einging, hat sie nichts unternommen. Umgekehrt ist kein Stasi-Auflöser bei der alten Dame gewesen.

Seltsam, hatten die doch behauptet, alle konspirativen Wohnungen seien von der Kommunalen Wohnungsverwaltung neu vermietet worden. Gerade auch deshalb wollten sie Norbert Peter keine Auskünfte erteilen, um nicht „Unschuldige“ zu diskriminieren. Dem heutigen Westberliner ist Fräulein Müllers Verbleib gleichgültig. Er will dem staatlichen Komitee dennoch mitteilen, daß es seine Liste komplettieren kann.

Kaum dort angekommen, ruft die Leiterin Frau Szengel: „Gott sei Dank, daß Sie da sind, wir haben Sie schon gesucht“. Wie das? Ganz einfach: Frau Szengel hat festgestellt, daß „die Sekretärin leider vergessen hat, die Straße der Jungen Pioniere 17 in die Liste zu übertragen“. Doch von dieser Straße war nie die Rede gewesen. Leicht gerötet fingert Frau Szengel in Papieren. „Wir reden von der Berliner Straße?“ Nein, von der Wilhelm-Pieck-Straße 116. Verblüfft vertieft sich die Absolventin der Babelsberger Akademie für Staatsrecht erneut in die Liste. Umgehend wird sie fündig: „Ja, hier steht's: Wilhelm-Pieck-Straße 116, eine Zweiraum -Wohnung mit Außen-WC. Entschuldigen Sie unser Versehen!“ Plötzlich erweckt die Stunden zuvor so resolute Bürokratin einen hilflosen Eindruck, plaudert über die Schwierigkeiten ihrer Arbeit. Ungefragt versichert sie Norbert Peter, früher nicht mit dem „Genehmigungswesen“, der Abteilung für Ablehnung von Ausreiseanträgen, „befaßt“ gewesen zu sein. Das wollte er jedoch gar nicht wissen.

Auf der Heimfahrt nach West-Berlin, vor der Glienicker Brücke , der Blick in den Rückspiegel. Und die Frage: „Warum dieses Verwirrspiel? Warum?“.

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