: Im Hamburger Hafen legt das Kapital wieder an
Nach Öffnung der deutsch-deutschen Grenze fällt der Hansestadt ihr traditionelles „Hinterland“ wieder zu / In politischen und kapitalen Führungsetagen herrscht Goldgräberstimmung / Die Strukturkrise der vergangenen zehn Jahre ist überwunden / Die Stadt sieht sich bereits als künftiges Wirtschaftszentrum Nordeuropas ■ Aus Hamburg Florian Marten
„Nach 19 Jahren sollte man meinen, daß alle Umfragergebnisse schon einmal dagewesen seien. Dem ist aber nicht so: Noch nie war der Geschäftsklima-Indikator so hoch...“ - mit hanseatisch-kühlem Erstaunen vermerkt die Hamburger Handelskammer dieser Tage, daß ihr Stimmungsbarometer mit 157 von 200 möglichen Punkten jetzt einen neuen Gipfel in der 19jährigen Barometergeschichte erklommen hat. Sogar Deutschlands Atomstromaktie Nummer eins begab sich in den Börsenolymp: Im letzten Jahr verdoppelte sich der Aktienkurs der Hamburgischen Electricitätswerke (HEW-Atomstromanteil in der Stromerzeugung: BRD-Rekord von über 80 Prozent).
Nicht nur das Klima ist prima: Die Immobilienpreise heben ab, Büromieten und Wohnungsmieten befinden sich im Steilflug, die Investoren stehen Schlange. Baukräne hocken wie Geier über der City, der Hafen meldet neue Umschlagsrekorde, Reedereien und Werften freuen sich klammheimlich über hervorragende Geschäfte, der Einzelhandel notiert Kaufrauschstimmung, das gesamte verarbeitende Gewerbe staunt über einen Umsatzzuwachs von 14 Prozent innerhalb der letzten zwölf Monate.
Die Zahl der Erwerbsarbeitsplätze steigt nach jahrelangem Rückgang wieder deutlich an, in keinem Bundesland ging die Arbeitslosigkeit in den letzten beiden Jahren so deutlich zurück wie in Hamburg.
Geradezu euphorisch notiert jetzt das Strategiepapier eines kleinen aber feinen SPD-Zirkels, der derzeit um den Generationswechsel bei den hanseatischen Sozis kämpft: „Hamburg hat die Chance, in den neunziger Jahren Mittelpunkt eines der bedeutendsten Wirtschaftsräume Europas zu werden.“ Vor allem schwedische und anglo-amerikanische Finanz- und Immobilienmultis investieren bereits heute heftig in diese Chance: Schwedische Finanzgruppen kauften zwei der häßlichsten Hochhausmonstren aus den sechziger Jahren, die bis vor kurzem noch niemand haben wollte.
Angst vor Yuppie-Invasion
In den noch preiswerten Altstadtvierteln geht bei vielen die Angst um: Mietenexplosion, Spekulantentum und Kaufrausch sind dabei, Hamburgs Gesicht zu verändern. Den lebendigen, multikulturellen Stadtteilen St.Pauli, St.Georg und Altona drohen in den Augen ansässiger Initiativen „Schickimickisierung“ und „Yuppisierung“, bei der auch die arrivierte linke Szene kräftig mitmischt: Viele aus der 68er -Generation sind inzwischen wohlhabend, legen ihr Geld oft nur allzugern in dem Stadtteil an, den sie als Studenten kennen- und liebenlernten.
Auf Hamburgs Immobilienmarkt drohen mittlerweile Frankfurter und Münchner Verhältnisse: Spekulanten sind im Vormarsch, wo früher der Eigenbesitz vorherrschte - die bedeutendsten Hamburger Konzerne und Verwaltungszentralen sitzen in den eigenen vier Wänden, spekulative Immobiliendeals waren die Ausnahme.
Noch tatkräftiger gebärden sich die großen Immobilienhaie: US-Amerikaner, Kanadier und Briten überbieten sich gegenseitig - oder gleich in Konsortien verbündet - in den Angeboten zur Übernahme ganzer Stadtteile. Besonderes Augenmerk gilt dabei der wilhelminischen Speicherstadt, einem florierenden Klinkerhafen-Viertel (Umschlag und Lagerung von Orientteppichen, Kaffee, Tee und Kakao), das durch seine Nähe zur City als lukrativer zukünftiger Bürostandort lockt. Das allerdings wird durch die gegenwärtige Hafennutzung bis heute rechtlich verhindert. Auch japanische Investoren schlugen kürzlich zu, als sie mit dem Hotel Vier-Jahreszeiten Hamburgs edelste private Immobilienperle für knapp 300 Millionen Mark fischten. Ohne Frage: Hamburg ist als Investitions- und Spekulationsplatz plötzlich wieder in.
Noch vor zwei Jahren war das ganz anders. Ganz Norddeutschland jammerte über das „Süd-Nord-Gefälle“: Frankfurt, München, Stuttgart und Mailand galten als europäische Wachstumsregionen, die norddeutsche Metropole Hamburg werde, so fürchteten viele, bis zur Einführung des europäischen Binnenmarktes 1992 endgültig an die Wand gedrückt werden. In der Stadtverwaltung jammerten die Kassenwächter über Milliardenlöcher in der Stadtkasse überall wurde gespart.
Altenpflege?
Kräftig ausbauen!
Hamburg, eine schrumpfende Stadt, so das Szenario, mit dem sich die Stadtpolitiker noch unlängst die Zukunft ausmalten: Lehrerausbildung? Eindampfen! Schwimmbäder? Schließen! Grundschulen? Verkaufen! U-Bahnen? Nicht ausbauen! Investieren? Lieber nicht! Altenpflege? Kräftig ausbauen!
Seit 1982 Klaus von Dohnanyi (SPD) ans Ruder der einstmals reichsten Stadt Europas kam (große Millionärsdichte, höchstes Lohnniveau, enorme Wertschöpfung, pralle Stadtkasse), hatte sich die Stadt auf ihren langsamen Verfall eingestellt. Dohnanyis Rezept: Hamburg müsse sich von der liebevoll gehegten Illusion befreien, eine konkurrenzlos reiche Handelsstadt zu sein. Statt dessen müsse radikal gespart und alle Mittel aufgewendet werden, um High-Tech, Forschung, Industrie und binnenländisch orientiertes Know-how an die Elbe zu locken. Allerdings, so gestand man sich damals ein, komme Hamburg eigentlich zu spät, habe lediglich die Chance, Anschluß zu finden.
Begleitet wurde die „Standortpolitik“ des ehemaligen Fordmanagers Dohnanyi fürs „Unternehmen Hamburg“ von einer städtischen Sozialpolitik, die sich recht erfolgreich mühte, die sozialen Lasten des Kaputtschrumpfens anderen aufzubrummen. So glänzte Hamburg mit einem zeitweilig 7.000 Menschen beschäftigenden „Zweiten Arbeitsmarkt“. Während 6.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst der Stadt vernichtet wurden, durfte die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg ABM-Stellen in Hamburg finanzieren.
Mit 120.000 SozialhilfeempfängerInnen, 60.000 Wohnungssuchenden und bis zu über 100.000 Arbeitlosen, so die offiziellen Zahlen, wurde die Zweidrittel-Gesellschaft in der schrumpfenden 1,6-Millionen-Stadt bittere Wirklichkeit. Steigende Zinsen für den anschwellenden Schuldenberg und vor allem die Sozialhilfeausgaben (zusammen rund 25 Prozent des Gesamtetats) brachten die Stadtkasse an den Rand des Bankrotts.
Strukturkrise traf die SPD unvorbereitet
Fatal wirkten sich auch die Folgekosten der Wachstumspläne in den sechziger Jahren aus. Hamburgs Sozialdemokraten hatten treu auf eine Industrialisierung der Elbe gesetzt, die aus der Kaufmannsstadt das Zentrum eines „Ruhrgebiets des Nordens“ machen sollte. Die Investitionen dafür - von einem überdimensionierten AKW-Park bis zu milliardenteuren Industrieansiedlungen (Chemie, Aluminium, Stahl) - zahlten sich nicht aus. Arbeitsplätze und Investoren blieben aus. Die Strukturkrise der traditionellen Hamburger Industrien, besonders der Werften, erwischte die Hansestadt völlig unvorbereitet.
Wie kaum anderswo in der Republik hatten sich die Sozialdemokraten hier auf dauerhaftes Wachstum mit entsprechenden Verteilungsspielräumen eingestellt. Der Kursschwenk auf eine schrumpfende Stadt, in der der SPD -Senat alle Mittel auf Lockangebote für die Wirtschaft umschichtet, traf die sozialdemokratische Klientel ins Mark
-ein Grund dafür, daß die Grünalternativen sich erfolgreich in der Landespolitik etablieren konnten. Allein der Schwäche der Hamburger CDU, an der die Hamburger Kaufmannschaft traditionell kein allzu großes Interesse hat, und die Weigerung der Grünalternativen, sich als Mitbewerber um Regierungsposten zu präsentieren, hielten die SPD bis heute an der Macht (wozu allerdings 1982 und 1987 jeweils Nachwahlen erforderlich waren).
Im Sommer 1988, dem sechsten Jahr des bundesdeutschen Aufschwungs, stieg das Hamburger Konjunkturbarometer plötzlich an, was aber in der verschlafenen Stadt zunächst noch niemand registrierte. So fand zur gleichen Zeit, im August 1988, auf Einladung der norddeutschen Handelskammern ein bundesdeutsches Unternehmertreffen zur Rettung des armen Nordens statt. Der Norden prostituierte sich unter Hinweis auf gesunkenes Lohnniveau, billige Vorstadtvillen, günstige Büromieten und willige Arbeitslose. Das Jammern über das Süd -Nord-Gefälle sollte in ein Werbeargument für den billigen Investitionsstandort Norddeutschland umgemünzt werden.
Der Boom war nicht mehr
zu bremsen
Was die norddeutschen Unternehmer da jammernd feilboten, war vom Kapital zu diesem Zeitpunkt längst erkannt worden: Hamburg profitierte überdurchschnittlich von der Erholung des Welthandels und des deutschen Exportwunders nach 1987. Die süddeutschen Metropolen Frankfurt, Stuttgart und München begannen aufgrund der Überlastung ihrer Infrastruktur und überhöhter Preise erstmals, Interessenten abzuschrecken.
Von Kanada über Singapur bis Schweden ging plötzlich die Angst vor der „Festung Europa“ um, vor einem wirtschaftlich abgeschotteten europäischen Binnenmarkt. Hamburg wurde als wichtiges Einfallstor ausgeguckt.
Als Mitte 1989 die Aus- und Übersiedlerströme anschwollen und am 9.November klar wurde, daß Hamburg „sein“ osteuropäisches Hinterland zurückbekommen sollte, war der Boom nicht mehr zu bremsen: Der Zustrom von Kapital und Menschen beschleunigte sich dramatisch.
Diese Entwicklung erwischte die Stadt auf dem falschen Fuß. Bis Jahr 1989 hatten alle städtischen Planungsstäbe auf ein schrumpfendes Hamburg gesetzt. Erst jetzt nimmt man verwundert zur Kenntnis, daß Hamburg mit seinen über 1,6 Millionen EinwohnerInnen 100.000 Menschen mehr beherbergt, als 1987 für 1990 prophezeit wurde. Nur ein Beispiel: Die Hochschulkapazität sollte auf 45.000 Studienplätze zusammenschnurren - heute studieren hier fast 70.000. Die groteske Fehleinschätzung hat weitreichende Folgen: In Hamburg fehlen heute Wohnungen für 60.000 Menschen, die Schulversorgung steht in Teilbereichen vor dem Zusammenbruch. Hamburg müßte 600 LehrerInnen jährlich einstellen, um die schlimmsten Lücken zu stopfen. Die Uni kann diese 600 pro Jahr derzeit aber nicht mehr ausbilden. Dramatisch verschlechtert hat sich auch die Versorgung mit Kindergärten und Kinderhorten: Über 40.000 Kinder warten derzeit auf einen Platz.
Die Szene setzt auf
alte Rezepte
In Hamburg wird es schon heute besonders deutlich: „Die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern des Wirtschaftsaufschwungs wird größer“, heißt es in einer Konzeptstudie des sozialdemokratischen Erneuererflügels, der - bislang folgenlos - eine grunddsätzliche Wende in der städtischen Politik einklagt. Mit leeren Kassen, massiven sozialen Problemen, großen Infrastrukturlücken und unbewältigten ökologischen Altlasten kaum bezahlbaren Ausmaßes sieht sich Hamburg jetzt mit den Flächen-, Konsum und Produktionsansprüchen einer wachsenden Bevölkerung und investitionswilliger Spekulanten konfrontiert.
Die Stadt reagiert orientierungslos. 20.000 Wohnungen, der größte Teil auf der grünen Wiese, soll in den nächsten Jahren neu gebaut werden. Mehr als eine Milliarde Mark sollen in neue Straßenverkehrsprojekte gesteckt werden (vierte Elbtunnelröhre, Flughafenautobahn, Stadtautobahnen). Die Stadt öffnet sich Investoren ohne Rücksicht auf die sozialen, ökologischen und infrastrukturellen Probleme. Es fehlt an Entwicklungskonzepten. In der Not wird zu den Wachstumsplanungen der frühen siebziger Jahre zurückgegriffen, die in den Aktenschränken vor sich hingammelten. Statt verseuchte Altflächen zu sanieren und per Flächenrecycling eine neue Ära verantwortungsvollen Stadtumbaus einzuleiten, drängt es die Stadt ins Grüne - ob Hafenausbau, Wohnungsbau oder Verkehrsinvestitionen.
Auch die grünalternative Szene reagiert hilflos und vergangenheitsorientiert auf die neue Situation: Verteidigt werden soll die Stadt so, wie sie heute ist. Die linke Szene der Innenstadtviertel will ihre Reservate gegen Yuppisierung verteidigen, kämpft gegen die Schließung jedes alten Kaufhauses und hat wenig Ideen für eine bessere Zukunft der Stadt. Weil in den siebziger und achtziger Jahren viele einstmals geplante Großprojekte nicht realisiert wurden, glaubt die Szene, mit den alten Verhinderungsstrategien ließe sich auch heute noch Erfolg einfahren.
In diesem Bewußtsein liegt auch der Kern der grünen Krise in Hamburg begraben: Lauthals wird über den offenkundigen „Sieg des Kapitalismus“ gejammert, eine positive Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart sucht man jedoch vergebens.
So kann die Hamburger SPD, die zu den verstaubtesten der Republik gehört - auch wenn sich jetzt intern erstmals ein Erneuererflügel regt -, und mit Henning Voscherau einen Bürgermeister an der Spitze hat, der sich allen Ernstes als politische Vorbilder Helmuth Schmidt und Herbert Wehner ausgeguckt hat, mit ihrem chaotischen wirtschaftsliberalen Partner weitgehend unbedrängt regieren. Obwohl intern heillos zerstritten, deutet vieles daraufhin, daß die Hamburger SPD/FDP-Koalition, Boom hin, Großdeutschland her, auch die Wahlen im nächsten Frühjahr heil überstehen wird.
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