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Die Planquadratur des uruguayischen Fußballs

Uruguay perfektioniert beim 0:2 gegen Italien die Destruktion / Mißtraut allen Berichten! Die Fliegen waren los!  ■  Aus Rom Herr Thömmes

Es war, gar keine Frage, ein Spiel unter erschwerten Bedingungen. Und im Fernsehen? Wieder mal nix davon rübergekommen. Typisch!

Weil Kameraleute und Regie zu sehr aufs Spielfeld fixiert sind. Dabei wäre dieser Montag abend eine hübsche Gelegenheit gewesen zu zeigen, woher die teilweise ziemlich unausgegorenen Berichte rühren, die von uns Reportern nach Hause geschickt werden. Die Bedingungen sind doch manchmal wirklich...

Schön und gut, nach exakt 25 handgestoppten Sekunden nimmt sich Baggio auf der rechten Seite den Ball, schaut, wartet, flankt auf Schillaci, und der bringt volley per Aufsetzer zum ersten Mal Hektoliter von Blut in Wallung. Keine fünf Minuten sind die beiden schon wieder am wirbeln, nur hat Torwart Alvez aufgepaßt. Irgendwann später schießt Baggio einen Freistoß ins Netz, der allerdings ein indirekter hätte sein sollen und deshalb nicht als Tor zählt, während auf der anderen Seite sich Aguilera davonschleichen konnte und dabei das fast unglaubliche schafft, nämlich einem Foulversuch von Bergomi zu entgehen - ohne Folgen fürs Resultat.

Zu dem Zeitpunkt allerdings war die Aufmerksamkeit schon weitgehend woanders. Auf dem Rasen tat sich wenig, wieder mal mußte „la ola“ als billiges Vergnügen herhalten, nur im Media-Bereich war die Hölle los, ganz so, als hätte Schiedsrichter George Courtney auf einen Schlag 16 Spieler vom Platz gestellt. Und im Fernsehen? Nix. Typisch.

Zu sehen gewesen wäre beispielsweise die mißbräuchliche Verwendung von Mannschaftsaufstellungen. Erst waren die kleinen Fliegen ja noch mit der Hand zu vertreiben, aber dann griffen 1.800 Presseleute entschlossen zu den weißen DIN-A-4-Bögen und wedelten wie die Teufel. Vergebens. Miraden von winzigen, hinterlistigen Beißern krochen in Nasen und Ohren, und bisweilen sah der Schreibblock aus wie ein Mohnkuchen.

Mit dieser Schilderung soll nun keinesfalls übertriebenes Mitgefühl geweckt werden. Vielmehr gilt es zu erklären, warum sich die Schilderungen des Spiels in verschiedenen Zeitungen unterscheiden rsp. beträchtliche Lücken aufweisen können. Kein Mensch kann sich so eines Überfalls erwehren und gleichzeitig dem Geschehen folgen. Interessant zu beobachten indes war die nähere Umgebung eingedenk der Theorie, daß Biertrinker wegen des Vitamin B im Blut von Insekten verschont bleiben.

Es soll hier niemand unnötig denunziert werden, aber festzuhalten gilt es, daß der Schwede nebenan ziemlich unbehelligt blieb, während der Franzose zur Linken nach einer Weile wie ein Wilder anfing um sich zu schlagen, wobei er bei jedem Treffer entzückt schrie: „Nehmt dies, nehmt dies.“

An dieser Stelle muß der Spielbericht mit Informationen eines vertrauenswürdigen Gewährsmanns ergänzt werden, der dem Ganzen in der sicheren Abgeschiedenheit seiner Wohnung folgte: Die erste Halbzeit war ziemlich langweilig, Möglichkeiten für Italien ergaben sich lediglich durch Freistöße, die in der Regel Fouls an dem wendigen Dribbler Baggio entsprangen.

Eines immerhin konnte auch der fliegengetrübte Blick im Stadion ausmachen: Die uruguayischen Spieler bewegten sich praktisch nicht, oder zumindest auf begrenztem Terrain. Fast schien es, als habe Trainer Oscar Washington Tabarez die eigene Hälfte in Planquadrate aufgeteilt, die von seinen Kickern nicht verlassen werden dürfen, und die Sturheit, mit der diese Order befolgt wurde, läßt auf grausame Strafandrohung im Falle der Zuwiderhandlung schließen.

Festzustellen war eine hintere Viererkette (Rückennummern: 6-3-2-14), davor eine weitere (Rückennummern: 20-5-8-9-) sowie zwei Spione (18-19), die möglicherweise Lücken im gegnerischen System ausmachen sollten. An diesem Schema änderte sich nichts, bestenfalls verrutschten die Akteure insgesamt mal ein paar Meter nach vorn oder hinten. Und wer sich durch äußere Umstände gezwungen sah, für wenige Sekunden sein Planquadrat zu verlassen, eilte umgehend wieder zurück. Und das Fernsehen? Kann so etwas doch gar nicht zeigen.

Es ist leicht einzusehen, daß, wo zehn Menschen sklavisch aneinandergebunden sind, viel Bewegung nach vorn nicht möglich ist, weil die Balance des Schemas gestört würde. Argentiniens Trainer Carlos Bilardo, der ja die Nachbarn bei ihrem Tun häufiger beobachten kann, hat das schon vorher gewußt: „Die stehen alle hinten drin.“ Und auch das: „Nicht einfach, dagegen ein Tor zu machen.“ Die beiden vom 'Corriere dello sport‘ mit der Bitte: „Piccoletti, pensateci voi!“ (Kleine, denkt an uns!), ins Rennen geschickten Baggio und Schillaci mühten sich nach Kräften. Und? Und mußten warten, bis Azeglio Vicini der Kragen platzte. Aldo Serena kam für Berti, ein großgewachsener Stürmer für einen Defensivling.

Das alles läßt sich so prima erzählen, weil Punkt 22 Uhr alle Fliegen im Stadion auf Befehl ihres Trainers die Mücke machten und die bisherige Bewegung von der Tribüne auf den Rasen überging. Italiens neuen Drang signalisierte de Agostini mit einem gewaltigen Freistoß (55.), wonach das Trio Baggio-Serena-Schillaci einmal flink den Ball laufen ließ und der sizilianische Turiner diesen mit links ins Netz haute.

Es war an Francescoli, der schon zuvor mehrfach orientierungslos den einen oder anderen Fuß aus seinem Planquadrat gesetzt hatte, im Verein mit Ruben Sosa, das feste Gefüge etwas zu lockern. Zwei Weitschüsse sprangen heraus, allzunah wollte dem Tor von Zenga dann doch keiner kommen. Zumal Serena einen Freistoß von Giannini einköpfte und die restlichen Minuten arg daherdöddelten. Nicht einmal die kleinen Mistviecher hätten jetzt mehr gestört.

Kann sich jemand im Ernst so etwas ausdenken und als Fußball verkaufen wollen? Och, sagt da Tabarez, „wir haben noch nie auf Angriff gespielt, das wäre selbstmörderisch“. Was aber wollte er dann hier Rom? „Warten, daß die Zeit vergeht und Italien einen Fehler macht.“ Und dafür kommen 73.303 Menschen ins Olympiastadion und zahlen 5.806.911.000 Lire. Mal ganz ehrlich, diese Zahl beeindruckt mehr als die ganze uruguayische Kickstatik.

Italien: 1 Zenga - 2 Baresi - 3 Bergomi, 6 Ferri - 11 de Napoli, 10 Berti (53./20 Serena), 13 Giannini, 4 de Agostini, 7 Maldini - 19 Schillaci, 15 Baggio (79./8 Vierchowod)

Uruguay: 1 Alvez - 14 Sadalha, 2 Gutierrez, 3 de Leon, 6 Dominguez - 8 Ostolaza (79./7 Alzamendi), 5 Perdomo, 9 Francescoli, 20 Ruben Pereira - 19 Fonseca, 18 Aguilera (56./11 Sosa)

Zuschauer: 73.303

Tore: 1:0 Schillaci (66.), 2:0 Serena (83.)

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