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Für einen „Antistalinismus von unten“

■ Interview mit Jelena Proschina von der sowjetischen Organisation „Memorial“, die sich um die Auseinandersetzung mit der Stalinzeit und um Hilfe für die Opfer bemüht.

taz: Es ist bekannt, daß viele Mitglieder Ihrer Organisation, also ehemals Verfolgte, trotz allem Stalinisten geblieben sind. Wie kann man das erklären?

Jelena Proschina: Das ist ein kompliziertes psychologisches Problem. Der Stalinismus ist auch eine Denkweise, die die Menschen geprägt hat. Man weiß ja, daß im Gefängnis die Menschen nicht gebessert werden, und viele Verfolgte haben wenig dazugelernt - außer dem Haß auf Stalin. Den allerdings hassen sie wirklich. Die mit dem Stalinismus verbundenen Methoden und Kategorien jedoch haben sie verinnerlicht. Sie verstehen weder die Perestroika noch Gorbatschow noch die heutige Demokratie oder das Mehrparteiensystem. Sogar bei „Memorial“ gibt es ganz unterschiedliche Menschen, von radikalen Demokraten bis hin zu Konservativen beziehungsweise Reaktionären. Was sie zusammenhält, ist ihr Haß auf Stalin. Viele derer, die von Stalin verfolgt wurden, hätten gerne, daß Memorial sich ausschließlich mit Stalin beschäftigt. Denn sie glauben, daß nur sie unschuldig gesessen haben. Die nächste Generation von Verfolgten, die Dissidenten hingegen, habe man zu Recht eingesperrt. Die hätten nämlich gegen die Sowjetmacht gekämpft und seien also echte Verbrecher.

Daher sind viele Opfer der Stalin-Zeit der Meinung, Memorial sei nur für die Verfolgten zwischen 1937 und 1953 zuständig. Daß wir uns auch mit der Zeit vor 1937 und der nach 1953 beschäftigen, daß wir uns in die heutige Politik einmischen, daß wir über Lenin sprechen, daß wir unsere Meinung zur Wirtschaft sagen und fortschrittliche Positionen einnehmen, all das gefällt ihnen nicht. Deshalb ist ein Teil unserer Mitglieder ausgetreten und hat die „Gesellschaft der Verfolgten der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre“ gegründet. Sie verstehen nicht, daß wir alles, was wir bisher für sie erreicht haben, nur deshalb erreichen konnten, weil wir ein Teil der allgemeinen demokratischen Bewegung sind. Nur weil die Volksfronten, die Grünen usw. Memorial unterstützen, können wir auch den Verfolgten helfen. Immerhin haben wir bei den Kommunalwahlen 150 Kandidaten aufgestellt, von denen dreißig als Deputierte in den Stadtsowjet gelangt sind.

Nach Ihrer Rückkehr aus den Lagern und Gefängnissen waren die Dissidenten fast immer gesellschaftlich isoliert. Hat sich das inzwischen verändert?

Erst seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Vorher identifizierten sich nur wenige mit ihnen, und das heimlich. Viele lasen zwar Solschenizyn und kannten die Aktivitäten Sacharows, aber all das war sehr gefährlich. Jetzt hingegen sind die Leute sogar stolz darauf, in den sechziger und siebziger Jahren solche Bücher gelesen zu haben.

Die Menschen sind also mutiger geworden?

Mit dem Mut ist das so eine Sache; der kommt nicht über Nacht. Die Angst ist tief verwurzelt, so tief, daß wir manchmal schon fürchten, sie sei inzwischen genetisch bedingt. Auf jeden Fall scheinen unsere Menschen mit dieser Angst infiziert zu sein. Es müssen wohl wenigstens zwei Generationen heranwachsen, die jetzige und noch eine, bis diese Angst verschwindet. Ich erinnere mich noch. Als wir gerade mit der Arbeit von Memorial begonnen hatten und die ersten Verfolgten zu uns kamen, hatten sie Angst, wenn wir etwas auf Tonband aufnehmen wollten. Sogar wenn wir mitschrieben, sagten sie, „lieber nicht“. Viele erzählten zwar, aber ihren Namen wollten sie nicht preisgeben; und das im Jahre 1989. Erst allmählich sind die Leute etwas mutiger geworden, aber viele vertrauen uns noch immer nicht ganz. Sie denken, daß auch Memorial all ihre Zettel und Karteikarten weitergibt.

Die Mutigen, die sich jetzt aktiv an der politischen Arbeit beteiligen, sind vor allem jene, deren Jugend in die Ära Chrustschow fiel, die also die sechs bis sieben Jahre Tauwetter nach dem 20.Parteitag erlebten. Viele von ihnen verhielten sich auch in der Breschnew-Zeit ehrlicher als andere und wurden zu Beginn der Perestrojka Anführer der demokratischen Bewegungen. Sie waren es, die die Volksfronten usw. ins Leben riefen.

Es gibt aber auch junge Leute, die mutig sind und sich bei den Grünen engagieren, die bei uns inzwischen offiziell anerkannt sind; manche gehen leider auch zu der praktisch faschistischen Pamjat. Ich weiß allerdings nicht genau, was für Jugendliche das sind.

Die Jugendlichen, die heute bei den Grünen mitmachen, haben offenbar kein großes Interesse, sich mit der Vergangenheit und den ehemals Verfolgten zu beschäftigen.

Ja, das ist richtig. Ein Problem ist die soziale Betreuung, der sich Memorial und andere widmen. Nicht jeder mag sich mit Alten und Kranken beschäftigen. Das kann man irgendwie verstehen. Doch die Jugendlichen bei Memorial werden immer mehr, denn unsere Organisation mischt sich inzwischen aktiv in das politische Leben ein.

Memorial ist ein Teil der allgemeinen demokratischen Bewegung, unsere Mitglieder sind auch Mitglieder der Volksfront, der Grünen oder der neu entstandenen „Komitees für öffentliche Selbstverwaltung“, die in einzelnen Regionen entstanden sind und unter anderem die Wahlen kontrollieren. So wurde bei den letzten Wahlen ein demokratischer Block, „Wahl 90“ gebildet, hier waren die Jugendlichen sehr aktiv. Sie organisieren Wahlveranstaltungen für ihre Kandidaten. Die, die an der Macht sind, können ja Plakate und Programme drucken, wir aber müssen mit der Schreibmaschine schreiben. Sie können Vervielfältigungsmaschinen benutzen, wir nicht. Die Gruppe, die zum Beispiel mich bei den Wahlen unterstützte - Studenten und Mitglieder von Memorial - hat Plakate gemalt und Flugblätter geschrieben. Sie sind ziemlich aktiv, und diese Begeisterung, die sich anläßlich der Wahlen zeigte, findet man überall im politischen Leben.

Sie beschäftigen sich bei Memorial vor allem mit den stalinistischen und späteren Verfolgungen. Wie ist ihr Verhältnis zur Zeit vor 1937?

Die vorstalinistische Periode ist ein sehr kompliziertes Kapitel. Von den Menschen, die diese Zeit erlebt haben, sind die meisten leider schon gestorben. Für unser Archiv sammeln wir Dokumente, Memoiren usw. noch Lebender oder ihrer Familienangehörigen. So können wir einiges rekonstruieren. Aber leider sind uns die staatlichen Archive bislang nicht zugänglich. Das erschwert die Erforschung dieser Periode natürlich sehr. Dazu kommt, daß es hier auch um Lenin geht. Die Zeit von 1917 bis 1924 war ja bisher fast völlig unerforscht. Erst jetzt beginnen die Historiker, sich mit ihr zu beschäftigen, unter anderem mit dem Problem des Weißen und Roten Terrors. Bisher galt der Rote Teror als Antwort auf den Weißen. Inzwischen wissen wir aus Dokumenten und Briefen Lenins, daß es schon in den ersten Tagen nach dem Umsturz 1917 Terrorakte gab.

Wie setzen Sie sich mit der Person Lenins auseinander?

Memorial stellt sich folgende Schwierigkeit: Es gibt Dinge, die manchen Menschen heilig sind. Das ist im Prinzip etwas sehr gutes, und ich habe Achtung davor. So vergötterten viele derer, die ins Gefängnis kamen, auch weiterhin Stalin. Sie schrieben ihm Briefe und glaubten nicht, daß er an ihrem Unglück schuld war. Erst später begriffen sie. Aber noch heute erlaubt kaum einer von ihnen, daß Lenin „beschmutzt“ wird. Daher ist es innerhalb von Memorial sehr schwierig, daß Thema „Lenin“ anzupacken. Vielleicht war Lenin ja eigentlich gegen Repressionen, Gewalt und Blutvergießen. Er mußte sich aber wohl dem Lauf der Geschichte unterordnen.

Memorial wird auch auf rechtspolitischem Gebiet aktiv?

Wir haben ein Rechtsanwaltskollegium, das unseren Mitgliedern kostenlosen Rechtsschutz gibt und denjenigen Hilfe anbietet, die sie benötigen. Soweit unsere Kräfte reichen, nehmen wir auch an der Vorbereitung einer Gesetzgebung teil, die verhindern soll, daß sich die Gesetzlosigkeit wiederholt.

Gibt es schon einen juristisch einklagbaren Zugang zu den Archiven des KGB?

Nein. Sie sind uns weiterhin verschlossen, obwohl wir uns immer wieder um Zugang bemüht haben, vor allem in unserer Stadt. Unweit von Leningrad, in Lewaschowa zum Beispiel, wurde ein Massengrab gefunden, wo etwa 46.000 Menschen liegen. Begraben wurden sie zwischen 1938 und 1940. Die ganze Zeit über hat ein riesiger zwei Meter hoher Zaun diesen Platz abgeschirmt. Es gab eine Wache mit Hunden. Aber alle taten so, als ob niemand wüßte, was sich dahinter verbarg. Wir sammelten Zeugenaussagen von Leuten, die Bescheid wußten. Erst dann hat man die Tore geöffnet und eine Probebohrung gemacht. Es stellt sich heraus, daß sich in der Erde Biomasse, Reste von Menschen, Haare und so weiter, befand. Aber diese ganzen Anstrengungen wären eigentlich nicht nötig gewesen, denn die Dokumente lagen beim KGB. Dort gibt es Nachweise zu allen 46.000, und dazu, daß sie genau dort begraben wurden. Als Memorial forderte, ins Archiv hineingelassen zu werden, damit unsere Spezialisten die Dokumente begutachten können, hat man uns das verweigert. Inzwischen hat das KGB zwar begonnen, Listen herauszugeben. Weil wir kein Papier bekommen und daher noch keine eigene Zeitung haben, werden sie in 'Wetschernij Leningrad‘ ('Leningrad am Abend‘, d.R.) abgedruckt - aber immer nur hundert Namen pro Monat. So dauert es Jahre, bis alle veröffentlicht sind. Außerdem sind die Vornamen, Vatersnamen und Familiennamen unvollständig. Darüber hinaus schließlich gibt es so wenige Angaben, daß die Familien manchmal nicht sicher sein können, daß man uns diese Dokumente aushändigt. Aber bisher gibt es noch kein entsprechendes Gesetz. Gegenwärtig wird versucht, ein Archivgesetz durchzusetzen, das alle Archive der Behörden und des Staates, besonders auch die des NKWD und des KGB, öffentlich zugänglich macht.

Kümmern Sie sich auch um die ehemaligen Kriegsgefangenen in Deutschland?

In der letzten Zeit haben sich immer wieder Personen an uns gewandt, die in deutscher Kriegsgefangenschaft waren und bei ihrer Rückkehr sofort in die Lager Stalins kamen. Nach ihrer Entlassung wurden sie nirgendwo anerkannt. Die Kriegsveteranen nehmen sie nicht in ihren Verband auf, weil sie der Meinung sind, daß derjenige, der in Gefangenschaft geriet, ein Feigling oder ein Verräter ist. Und nun wenden sie sich an uns. Das hat uns sehr berührt. Wir würden ihnen sehr gerne helfen. Außerdem gibt es noch jene, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschafft wurden. Als sie zurückkehrten, kamen auch sie in unsere Lager. Man rechnet ihnen die Zeit nicht an, und so bekommen sie keine Rente. Jetzt wollen wir ihnen helfen und unsere Kontakte mit der Aktion Sühnezeichen dafür nutzen. Vielleicht gibt es irgend einen Ausgleich, der gezahlt werden könnte.

Interview: Erhard Stölting, Birgit Ziegenhagen

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