: Ost-Berlin: Müllmänner an der Streikfront
In Ost-Berlin stinkt es gewaltig: Die Müllmänner fordern Annäherung ihrer Löhne an die der Westberliner Kollegen Müllaster blockieren selbst die Volkskammer / Stehen weitere Streiks im öffentlichen Dienst bevor? ■ Vo Hans-Martin Tillack
Berlin (taz) - Gerade und aufrecht steht er da, der Arbeiter vor dem Roten Rathaus. Auf dem Kopf trägt er eine kecke Schirmmütze, eben schiebt er die Hemdsärmel hoch. Der Arbeiter sieht aus, wie ein Mann seiner Klasse eben auszusehen hat. Und das ist kein Wunder, denn der selbstbewußte Prolet ist aus Bronze. Aus Fleisch und Blut hingegen sind die sechs Arbeiter, die sich auf der anderen Straßenseite auf dem Rasen des Marx-Engels-Platzes räkeln und in den sonnigen Mittag hineinträumen. „Berlin - Stadt des Friedens“, steht in goldenen Lettern an der Fassade gegenüber. Doch der ist seit Dienstag gestört. Schuld sind die Arbeiter auf der Wiese. Ihre orangefarbene Kluft weist sie als Müllwerker aus - und die sind in Ost-Berlin seit Dienstag im Streik.
In Sozial- und Kindereinrichtungen holen die 3.200 Beschäftigten des VEB Stadtwirtschaft den Müll noch ab, doch überall sonst quellen die Abfalleimer längst über. 200 Fahrzeuge, von der Kehrmaschine bis zum Sperrmülltransporter, stehen seit Dienstag vor dem Haupteingang des Roten Rathauses. Und seit gestern blockieren die Müllwerker auch den Palast der Republik, den Sitz der Volkskammer, weil Gerüchte umgingen, die Palastverwaltung habe eine westliche Entsorgungsfirma beauftragt, die überquellenden Container zu leeren.
„Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ fordern die Müllkutscher: Sie wollen Löhne, die sich dem Einkommen der Kollegen bei der Westberliner Stadtreinigung wenigstens annähern. Außerdem verlangen sie höhere Gebühren für die Müllabfuhr bei Gewerbebetrieben. Sonst, so fürchten die Müllwerker, rollt die Abfallawine ungebremst auf die Hauptstadt zu. Schon seit dem 9. November sei die Müllmenge um ein Drittel gestiegen. Mit der Währungsunion, so fürchtet der Lader Frank Ehrlich, kaufen seine Mitbürger nur noch Westwaren: „Drüben, wo alles dreimal verpackt wird.“
Für die Forderung nach höheren Gebühren findet Ehrlich durchaus Unterstützung. Viele Passanten tragen sich mit ihrer Unterschrift auf einer Tafel ein, die der Müllmann vor dem Rathaustor aufgestellt hat. Trotzdem wächst in Ost -Berlin der Unmut. Die Verkäuferin im Centrum-Warenhaus schüttelt nur den Kopf über die Lohnforderungen der Müllkutscher, die jetzt schon 1.500 Mark im Monat verdienen und eine Aufstockung bis zu 2.400 Mark verlangen. „Unsereens, der 800 mit nach Hause nimmt, kann das nicht verstehen“, meint sie.
Zu Hause können sich die Ostberliner noch behelfen, indem sie neben den vollen Mülltonnen Plastiktüten aufreihen. Doch für die Gewerbebetriebe sieht die Situation dramatisch aus. Der Magistrat - die Ostberliner Stadtregierung signalisierte denn auch rasch Nachgiebigkeit. Anfänglich hatte er den Streik scharf verurteilt. Schließlich haben die Müllwerker im Gegensatz zu ihren Kollegen in der Privatwirtschaft sichere Arbeitsplätze. Am Mittwoch jedoch kündigten zwei Stadträte an, die Müllabfuhrgebühren zu erhöhen und Tarifverhandlungen mit der ÖTV zu führen, in der sich demnächst auch die Ostberliner Müllwerker organisieren wollen.
Die Ostberliner Stadtväter - die bisher eigentlich noch überhaupt keine Hoheit über die eigenen Stadtwerke haben wollen mit der ÖTV gleich über die Löhne aller öffentlich Bediensteten der Stadt sprechen. Sie treibt die Angst vor einer Streikwelle. Durch die Stadt geistern bereits Gerüchte, die Ostberliner Verkehrsbetriebe BVB würden sich aus Solidarität dem Ausstand anschließen. Noch dementiert der BVB-Gewerkschaftsrat. Aber der Streik der Müllwerker macht dem Magistrat schon genug zu schaffen. Weil die Arbeiter zumindest bis zur Magistratssitzung am Dienstag weiterstreiken wollen, sammeln sich bei den Verantwortlichen der Ostberliner Protokollabteilung bereits die Schweißperlen auf der Stirn. Heute nämlich besucht Richard von Weizsäcker das Rote Rathaus, um die Gesamtberliner Ehrenbürgerschaft entgegenzunehmen. Links und rechts vom roten Teppich stehen dann voraussichtlich die Straßenkehrer.
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