Anstrengung des Denkens

■ Vortrag von Detlev Claussen in der Villa Ichon: „Die Grenzen der Aufklärung“

Detlev Claussen gehört zu den wenigen „Frankfurter Schülern“, die mit ihrem Studium bei Horkheimer und Adorno nicht angeberisch hausieren gehen wie mit einer illustren aber abgeschlossenen und „überwundenen“ - Episode ihrer studenti

schen Vergangenheit. Er gehört also auch nicht zu jenen, die auf der Woge des postmodernen Zeitgeists - was immer das sei - den intellektuellen „Vatermord“ an Horkheimer und Adorno als Emanzipation verbuchen, obwohl es vielleicht nur die unbe

griffene Ablehnung dialektischer Denkanstrengung ist. Behaupte ich jetzt einfach mal in dem Versuch, mir zu erklären, warum so viele Adorno-Schüler es heute nötig haben, sich wichtig zu tun mit ihren Seminaren „damals“ in Frankfurt und gleichzeitig pseudoerwachsen milde lächelnd ihre studentische Hochachtung von damals als Autoritätshörigkeit verspotten.

Der langen Vorrede Sinn: Detlev Claussen benutzt die „Dialektik der Aufklärung“ nicht wie eine „Zitatenrüstkammer des Kulturbetriebs“, sondern als offene Theorie, die sich „als Theorie mißglückter Befreiung liest“ und mit ihrem weiterentwicklungsfähigen Instrumentarium - den Mitteln der analytischen Sozialpsychologie - die Geschichte des modernen Antisemitismus erklären hilft.

Verstanden? Nein? Kein Wunder, denn ich mußte, wie viele andere in der Villa Ichon, am eigenen Kopf erfahren, was dialektische Denkanstrengung heißt, wie schwer es ist, einen Vortrag wie den von Detlev Claussen zu verstehen - wie angemessen allerdings auch, Anstrengung zu verlangen. „Elitär“ sei das, hörte ich jemanden sagen. Aber nicht alles, was sich dem schnellen Verstehen verschließt, ist „elitär“. Und ein verholperter, ungeschickter Berichterstattungs-Ausweichversuch wie dieser hier spricht nicht gegen den Vortrag, sondern gegen einen gewissen Mangel an geistiger Potenz auf meiner Seite - und dafür, sich mit Detlev Claussens Theorie über den europäischen Antisemitismus vor und nach Auschwitz ausführlich zu befassen. (z.B.: Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung, Fischer TB 6634.)

Claussen bezeichnet den Anti

semitismus als „Alltagsreligi on“, die sich vom „christlichen“ über den „politischen“ bis zum „demokratischen“ Antisemitismus unsere Tage fortschleppt und in der kapitalistischen Tauschgesellschaft ihre „materielle Gewalt“ als unbegriffene Triebstruktur behält. Jedes Individuum in einer die menschlichen Beziehungen abstrahierenden Tauschgesellschaft ist potentiell anfällig für Alltagsreligionen, weshalb Claussen auch „skeptisch gegenüber der pädagogischen Aufarbeitung“ mit ihren moralischen Kategorien wie „falsch“ oder „richtig“ ist. Es sind Kategorien, die angesichts dessen versagen müssen, was zu Auschwitz führte und was, nach Claussen, „Auschwitz erinnern“ heißt. Hitlers Postulat vom „Antisemitismus der Vernunft“ kennzeichnet ad

äquat jene der Tauschgesellschaft innewohnende Gleichgültigkeit, die den bürokratischen Massenmord „emotionslos“ real werden ließ - ebenso wie das „nichts mehr davon wissen wollen“ als Ausdruck der bedrohlichen Ahnung nach Auschwitz, daß Menschenleben nichts mehr wert sind. Darum versagen auch sentimentale „Aufarbeitungen“ wie die amerikanische Serie „Holocaust“, denn sie wirken über emotionale Identifikation. Dieser Vorgang aber ist unbewußt, verhindert das Begreifen, ermöglicht die Abwehr der Erkenntnis von Schuld. Darüberhinaus erfülle sich im Weinen über Filme wie „Holocaust“ das „Einverständnis mit dem Schlechten“. Dem „leeren und kalten Vergessen“ (Adorno) läßt sich nicht mit Gefühlen begegnen.

Sybille Simon-Zülch