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SELIGE SELTENHEITEN

■ Ostzonale Missionarin im Endspiel

Meine Tante liebte die Zonengrenze über alles. Sie, die bis heute erfüllt von einem tiefen Verantwortungsbewußtsein die Fahne des schlesisch-konservativen Flügels in unserer Familie hochgehalten hat, wo hätte sie besser ihre Abneigung und ihr tiefes Mißtrauen gegen alles, was linker war als der Kolpingverein, kultivieren können? Was wäre sie gewesen all die Jahre ohne das ostzonale Bollwerk, das düsterste Denkmal menschlicher Unterdrückung schlechthin? Wie viele Abende, wie viele Kaffeekränzchen, wie viele Schulausflüge (was hätte meine Tante anderes von Beruf sein können als Lehrerin?) hat sie eisern bestritten mit diesem Thema und bereichert durch ungebrochene Angriffe auf den Feind anhand ergreifender Berichte über sämtliche Repressalien, denen sie sich immer wieder ausgesetzt sah bei Grenzüberschreitungen von Ost nach West! Von ihren regelmäßigen Zonebesuchen kehrte sie jedesmal erfrischt zurück mit einem unerschöpflichen Repertoire an neuen ostzonalen Schauergeschichten, mit denen sie uns, die sie dem Einfluß verderblicher Gegenpropaganda verbildeter linker Studienräte ausgesetzt sah, aus unserer politischen Unmündigkeit zu reißen suchte. Sie, die sich gern als den einzigen realpolitischen Geist innerhalb einer liberal infizierten Familie begriff, verbrachte Stunden damit, uns ihre entmutigenden und entwürdigenden Grenzerlebnisse zu schildern, wobei bis heute dahingestellt bleiben muß, ob es die GrenzbeamtInnen gewesen sind, die soviel Erfindungsreichtum aufbrachten, oder nicht sie selbst. Gerade weil wir jedesmal empfindlich zuckten, wenn sie die Worte „Zone“ oder „Zonengrenze“ mit bitterer Vehemenz in den Raum warf, dachte sie nicht daran, diese etwa durch andere zu ersetzen, und auch der Begriff einer nur so genannten DDR hat im Bewußtsein meiner Tante nie Fuß fassen können, denn sie schätzte keine faulen Kompromisse.

Es versteht sich daher von selbst, daß sich meine Tante seit dem ostzonalen Grenzfall in einem Zustand tiefster innerer Verwirrung und äußerer Orientierungslosigkeit befindet, denn in Wahrheit tat sie selbstverständlich nichts lieber, als sich Jahr für Jahr aufs neue der Drangsal der selbstauferlegten Grenzüberschreitungen auszusetzen. Sie hatte dort nicht einmal Verwandte, aber doch Menschen, denen sie sich irgenwie verwandt fühlte und die, wie sie es auszudrücken pflegte, ihren politischen Beistand bitter (!) nötig hätten. Meine Tante war von ihrer ostzonalen Mission dermaßen leidenschaftlich besessen, daß sie sich in West -Berlin zu verlaufen drohte, während sie in Ost-Berlin jeden Mauerstein kannte.

Ach, es gab nichts, was sie ihr in all den Jahren nicht angetan hatten: Man hatte sie stundenlang Schlange stehen lassen, in dunklen, unterirdischen Hallen darauf warten lassen, daß die Endziffern ihres Passes ausgerufen würden, und sie wurden nicht ausgerufen. Man wollte sie mürbe machen, sie aber stand Schlange, ließ sich erniedrigen und beleidigen, beschimpfen und anpöbeln (hatte man sie nicht, vor Jahren, bespuckt und ihre Kleider untereinander verlost??), ließ sich die lie bevoll verpackten Westsouvenirs (Aldi-Schokolade) aufreißen und die Taschen von rohen Zöllnerhänden durchwühlen, Zeitungen konfiszieren und ihren Leib visitieren, kurz: man ersparte ihr nichts, sie war geprüft und gezeichnet! (Wie viele Stempel der Unterdrückung trägt doch ihr Paß!) Für meine Tante aber war all dies Teil eines Kampfes, den sie um nichts in der Welt aufgegeben hätte, und sie hatte einen langen Atem.

Um meinen ersten Reisepaß einzuweihen, lud meine Tante mich auf eine politische Bildungsreise nach Berlin ein. Ich war unbedarft, und meine Tante bereitete mich schonend auf das Kommende vor. In ihrer Ausmalung der zu erwartenden Erniedrigungen war sie nie laut, sie pflegte sie Ausdrucksform der verbitterten Realistin. Sie wußte, daß leise Bissigkeit die besten Früchte trägt. Erneut befand sie sich auf einer der zahlreichen Fahrten, das wahre Gesicht des gegnerischen Regimes zu entlarven. Der seriöse Herr, der mir im Zugabteil schräg gegenüber saß, war ohne Zweifel ein Spion. Meine Tante war in dieser Welt zu Hause, sie brauchte keine zwei Minuten, ihr Gegenüber zu entlarven. Ihre Aufdringlichkeit war leise, aber konstant. Es erregte ihr Mißfallen, wenn das Lesen eines nichtostzonalen Buches weder die Aufmerksamkeit des Spions erregte noch das Mißtrauen des Schaffners weckte. Schließlich hatte sie mich mitgenommen, um Beweise zu führen.

Viermal überschritten wir bei diesem Berlinbesuch die Grenze von Ost nach West, und ich gestehe, daß es meiner Tante über jahrelanges Training gelungen war, einen gewissen provozierenden Zug zu entwickeln, der den sanftesten Beamten in Kürze in einen eiskalten Krieger zurückverwandeln konnte. Als man uns am dritten Tag in der düsteren Halle am Bahnhof Friedrichstraße („Ist das nicht wie in einem Luftschutzbunker, nun urteile selbst, mein Kind!“) über drei Stunden auf unsere Pässe warten ließ, während ich, mit schweißnassen Händen dahockend, unter der unbestimmten Angst litt, das Ausrufen meiner Endziffern zu versäumen und dann für immer dort unten hocken bleiben zu müssen, triumphierte meine Tante unendlich. Drüben tauchten wir schließlich im Schoße der vom langen Warten erschöpften, händeringenden ostzonalen Seelenverwandten unter. Am vierten Tag schließlich forderte man meine Tante, die ausgesprochen kurzsichtig ist, auf, zum Zwecke einer eingehenden Gesichtskontrolle ihre „Sehhilfe“ abzunehmen. Mit dem für sie typischen Schulterzucken drehte sie sich um und sagte, siehst du, so weit ist es mit der deutschen Sprache gekommen!

Der Gedanke, daß ich ohne sie an der Grenze weniger Schwierigkeiten hatte, und die Tatsache, daß ich späterhin selten lange Wartezeiten im Grenzverkehr in Kauf nehmen mußte, erfülllte meine Tante sogar mit Stolz, bestätigte dies doch nur ihre Theorie, daß man sie zum persönlichen Staatsfeind gekürt hatte. Jede Erleichterung des Grenzverkehrs verfolgte sie, ihrem Image getreu, mit tiefem Mißtrauen. Aber als die Grenze fiel, weinte sie heimlich bittere Tränen. Sie würde nicht mehr hinüberfahren können. Das ist auch nicht mehr nötig. Ihre Seelenverwandtschaft rennt ihr bereits die Türen ein.

felicitas hoppe

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