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Stimmen

■ Fragmente aus Reden und Interviews mit sowjetischen Schriftstellern (Glasgow, November 1989)

Geheimnisvolle und unbewußte Fäden verbinden Dichtung mit dem Leben und dem gesellschaftlichen Umfeld. Sobald sich ein Gedicht aber thematisch direkt mit gesellschaftlichen und politischen Problemen befaßt, wenn es illustrierend wird, verliert es seinen Wert. Leider sind unter Perestroika viele solcher Gedichte entstanden, aus denen zwar Mut und Kraft spricht, die sich aber an diese merkwürdige, schreckliche Ära der Hoffnung und Enttäuschung nicht durch „das Rauschen der Zeit“ binden, wie Mandelstam es ausdrückte, sondern nur durch den Wunsch, die neuen Slogans zu illustrieren.

Publizistik kann dies vielleicht tun, auch Prosa eventuell

-der Dichtung aber steht es überhaupt nicht an...

In einem ihrer Gedichte schrieb Anna Achmatowa: „Sei still, mein Gott, so still, / damit hörbar wird der Schritt der Zeit.“ Gegenwärtig aber ist ein solcher Lärm, daß der Schritt der Zeit in unserer Dichtung nicht mehr zu hören ist.Tatjana Bek, Lyrikerin

Es ist merkwürdig, aber seit sich die Türen geöffnet haben und das Leben für die Intelligenzija einfacher geworden ist (und schwerer für die Mehrheit der anderen), fühle ich mich täglich dümmer werden. Aber das hat mich nicht überrascht.

Als ich vor zweieinhalb Jahren bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten nach meiner Prognose für die Zukunft gefragt wurde, habe ich gesagt, daß wir uns alle von den Zeitungen ablenken lassen und daß ich keine Ahnung habe, wie ich beruflich wachsen soll, ohne dabei intellektuell kleiner zu werden. Jetzt allerdings sehe ich, daß das Problem vor seiner Lösung steht.

Unsere Kultur war als Ganzes, mit Varianten, das Produkt einer Art geistigen Untergrunds. Es war eine Kultur des Widerstands. Wir haben darin eine lange Tradition, die schon mit Tschaadajew beginnt, der meinte, daß der Geist sich unter äußerem Druck kräftigt; durch aktive Zurückweisung wächst seine Stärke um das Zehnfache...

Jetzt, da Literatur zur Veröffentlichung gesucht wird, ist das sich bietende Bild einigermaßen entmutigend. Nur sehr wenige, wenn überhaupt, haben Texte anzubieten...

Lassen Sie mich aber noch etwas hinzufügen. Ich denke, daß die Kultur des Widerstands vorbeigehen wird und mit ihr auch das Prinzip des Dissens mit seiner chauvinistischen Protektion, wie wir das heute erleben. Übrigbleiben werden jene einsamen Gestalten, die ihr eigenes dichterisches Thema haben. Von ihnen gibt es nie sehr viele.

Es ist der Mensch, der die Wüsten des Lebens unabgelenkt von äußeren Umständen durchquert und ohne den Drang, zu reagieren und zurückzuweisen, der - so denke ich jetzt - von größtem Interesse ist und die größte Hoffnung darstellt.Oleg Tschkuntsjew, Lyriker

Kürzlich gab ich ein Interview in Jugoslawien. Anschließend rief mich jemand an und fragte, warum ich gesagt hätte, elf Jahre sei ich frei gewesen und jetzt sei ich nicht länger frei... Ja, wir waren wirklich frei - allerdings nicht alle... Unsere Kultur war aufgeteilt in zwei Sphären: die offizielle und die des Untergrunds... Jetzt müssen die beiden sich verbinden. Aber noch scheinen die Dinge nicht in diese Richtung zu laufen. Ein so bedeutender Dichter wie Jan Satsunowskij ist immer noch unbekannt (er war von dem Kaliber eines Boris Slutskij und starb 1982)... Oder mein eigener Zeitgenosse, der sehr ernste und gehaltvolle Dichter Viktor Nekrasow. Bisher sind erst zehn seiner Gedichte veröffentlicht worden. Solange sich diese beiden Seiten unserer Kultur nicht miteinander verbunden haben, können Kritiker unsere Literatur gar nicht wirklich beurteilen.Gennady Aygi, Lyriker

Ich schreibe wie einer, der über ein Krankenlager gebeugt ist. Kann man satirisch sein, wenn man zu trösten versucht?... Was bleibt, ist die Suche nach der Logik in der Gesellschaft. Denn nach irgendeiner Logik zu suchen, bringt die Leute zum Lachen. Das ist Satire. Man muß nur nach Logik suchen und schon wird man zum Satiriker.

Humor spielt eine sehr große Rolle. Er ist die Rettung der Gesellschaft. Wenn Lebensmittel und die puren Notwendigkeiten des Alltags knapp sind und totale Ernüchterung herrscht, dann ist die Funktion des Humors, den Geist zu erlösen. Dies ist die Richtung, die wir alle eingeschlagen haben. Vor Glasnost war es so, weil die politische Situation so unmöglich war.

Jetzt ist es das Gegenteil: Wir sind frei, aber wir brauchen Humor, weil es nichts zu essen und anzuziehen gibt. Auf diese Weise retten wir uns - sonst gäbe es vielleicht einen gewalttätigen Aufstand. Die Funktion des Witzes ist zu beschwichtigen, nicht mehr und nicht weniger. Dampf ablassen. Wir kichern und verlieren unsere Aggressionen, unsere Bösartigkeit. Weil wir in Wirklichkeit am liebsten losfliegen würden und Bomben werfen. Auf euch. Oder wir könnten unseren Anteil verlangen. Man weiß, wie unangenehm ein hungriger und wütender Nachbar sein kann. Also besänftigen wir uns selbst mit Humor. Wer lacht, braucht nicht zu schlagen.Michail Schwanezki, Satiriker

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