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Hauptstadt-Anachronismus

■ Nach den Entscheidungen kommt der Kampf um die Symbole

Am morgigen Sonntag tritt die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft, der 2.Staatsvertrag folgt, das Prozedere der Vereinigung liegt fest. Die Weichen sind gestellt. Was jetzt folgen müßte, sind die Mühen der Ebene. Die konkrete Kleinarbeit, das, was letztlich darüber entscheidet, ob das Leben in Deutschland lebenswerter wird oder nicht. Der rauschende Mantel der Geschichte könnte wieder in die Mottenkiste wandern, der Bedarf an Pathos ist gedeckt.

Doch weit gefehlt: Der Kampf geht weiter, titelte der Wiener 'Standard‘, „Berlin und Bonn ringen um der Deutschen Hauptstadt“. Hauptstadt, so tönt es sogar aus der taz, Hauptstadt könne im Ernst doch nur die Metropole weltoffen, multikulturell und dem Kleinbürgermief abhold -, die Ost-West-Drehscheibe Berlin werden; Bonn, das Regierungsdorf am Rhein, einfach lächerlich. Der Verband der Kleingewerbetreibenden und die Bonner Immobilienbranche, wer sonst könnte ein Interesse an Bonn haben? Gestützt wird diese Argumentation noch mit dem Verweis auf die bislang Zukurzgekommenen: Die Bürger der ehemaligen DDR könnten sich mit Bonn keinesfalls identifizieren, die Hauptstadt Bonn würde den Akt der Einverleibung symbolisch festschreiben. Politik, wohl wahr, präsentiert sich auch symbolisch.

Hans Magnus Enzensberger hat bereits vor einigen Jahren einmal treffend festgestellt, worin der symbolische Wert der Bundesrepublik und damit auch der von Bonn besteht: Die Deutschen, so Enzensberger, haben in einem einmaligen Akt ihre Geschichte eigenhändig zertrümmert. Daraus ergibt sich

-List der Geschichte - ein Vorteil von kaum zu überschätzendem Wert: Den ganzen Ballast, den andere europäische Nationen noch mit sich herumschleppen, haben die Deutschen abgeworfen. Anders als der französische oder englische existierte demnach der deutsche Nationalstaat als Hindernis auf dem Weg nach Europa nicht mehr. Ausdruck dieses Staates im Zwischenstadium ist das Provisorium Bonn. Dem Kanzleramt im Bungalowstil, dem Parlament im Wasserwerk, der schmucklosen Fassade des langen Eugen, dem ganzen Regierungsviertel geht die symbolische Repräsentanz eines mächtigen Nationalstaates, mit dem die Leute sich identifizieren können, völlig ab.

Dabei spielt die Stadt Bonn, als geographischer Ort, eine eher zufällige Rolle. Zwar kann sich Kohl nicht mehr wie Adenauer einst in Bonn sein Regierungsviertel einfach in Ludwigshafen aufbauen, doch Berlin darf nicht der Ersatz dafür werden. Berlin ist oder soll eine europäische Metropole werden, die dann hoffentlich all das wird, was es in der konkreten Phantasie mancher offenbar schon ist: weltoffen, multikulturell, dem Kleinbürgermief abhold. Das Etikett Hauptstadt mag man Berlin anheften. Doch Berlin sollte nicht als neuerliche Kulisse für die repräsentative Machtentfaltung der Regierung eines neu-alt-deutschen Nationalstaates dienen, der dann wieder in die Mottenkiste der Geschichte greift, um den (nach Enzensberger) abgeworfenen Ballast wieder hervorzuholen.

Jürgen Gottschlich

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