: „Vielleicht ist es ja im Herbst so weit“
Leipziger Betriebsräte vor der Währungsunion: „Abnicken“ von Kündigungen und Desinformation durch die neuen alten Herren ■ Aus Leipzig Hans Rersch
Im Sender Leipzig war er angekündigt worden, der Erfahrungsbericht des Betriebsrats Günther Rupietta aus dem Krupp-Stahlwerk Rheinhausen. Den frisch gewählten BetriebsrätInnen, die sich nur wenige Stunden zuvor mit großem Interesse die schwachen bundesdeutschen Kündigungsschutzbestimmungen erklären ließen, war sei Vortrag wärmstens ans Herz gelegt worden. Doch als letzte Woche seine Stunde kam, da saß der erfahrene Kämpfer um den Erhalt von Arbeitsplätzen vor völlig leeren Stühlen. Überhaupt niemand war gekommen.
Wird Leipzig von der prophezeiten Arbeitslosigkeit verschont bleiben, und sind deshalb die Rheinhausener Erfahrungen uninteressant? Ganz im Gegenteil! Wurden im Mai die Kündigungen noch vereinzelt ausgesprochen und trafen dabei vornehmlich die noch beschäftigten RentnerInnen und die sogenannten Kehrbrigaden (das heißt die vermeintlich Arbeitsunwilligen), so ereilt nun wenige Tage vor der Währungsunion ganze Abteilungen die Schreckensnachricht.
In Leipzig sind bereits 60.000 Arbeitslose gemeldet; laut Arbeitsamt haben aber mindestens genauso viele bereits Kündigungen erhalten, die aber erst nach einer Frist von bis zu drei Monaten wirksam werden.
Im Betriebsgruppenzentrum des Neuen Forums laufen die Telefone heiß, weiß Udo Staake den Initiatoren der Rheinhausen-Veranstaltung zu berichten. Doch häufig steht nicht die Frage im Vordergrund, wie die Kündigungen zu verhindert wären, sondern ob noch eine Abfindung durchgesetzt werden kann und wann wohl das Arbeitsamt zahlen würde.
Ist die Kündigung somit keine Schreckensnachricht? Für manche Mütter, die der Doppelbelastung müde sind, erscheint die erzwungene Arbeitslosigkeit weniger schlimm, hat Elke Griesel, selbst Juristin und Mutter, beobachtet. Wieweit sie mit dem Arbeitslosengeld kommen werden und was passiert, wenn auch noch der Ehemann arbeitslos wird - darüber wird jetzt lieber nicht nachgedacht. Für die anderen, Frauen wie Männer, ist es eine schlimme Nachricht, aber wohl doch eine unvermeidliche: „Haben denn nicht die Politiker eine hohe, aber schnell vorübergehende Arbeitslosigkeit vorausgesagt?“
Hat sich somit die Arbeiterschaft in Leipzig verabschiedet? Wenn auch die „Revolution“ nicht von den Betrieben ausging, entgegnet der West-Gewerkschafter Berthold Huber, können die Leipziger Werktätigen doch zu Recht als Vorreiter für eine Demokratisierung der betrieblichen Interessenvertretung gelten. Als Abgesandter der IG Metall aus Frankfurt kann er sich Überblick verschaffen. 8.000 Betriebe gibt es in der DDR, fast 1.000 haben ihre Betriebsräte neu gewählt, und davon wiederum befinden sich die meisten im Raum Leipzig.
Allerdings seien nicht nur neue Personen in die Ämter gewählt worden. Oftmals konnte die bisherige Betriebsgewerkschaftsleitung die Mehrzahl der Stimmen der KollegInnen auf sich vereinen. In manchen Fällen, so ein Zwischenruf, hätten sich auch abgehalfterte FDGB-Funktionäre ein Betriebsratsmandat verschafft. Der Zuruf bleibt unwidersprochen.
Ähnlich unterschiedlich ist auch die Durchsetzungskraft der neuen BelegschaftsvertreterInnen. Ihre Stellung reicht vom gleichberechtigten Partner, beispielsweise in einer Ziegelei am Rande der Stadt, bis hin zu ihrer vollkommenen Mißachtung durch die Betriebsleitung im Schaltanlagenbau.
Erste Mutprobe
Unsicher ist vor allem die rechtliche Stellung der Betriebsräte, wodurch sie in einem ganz starken Maß vom betrieblichen Kräfteverhältnis abhängig sind. Entsprechend fiel auch die erste Mutprobe aus. Dank kräftiger Propaganda durch das Neue Forum griffen viele BetriebsrätInnen eine Forderung des Runden Tisches auf und stellten der bisherigen Betriebsführung die Vertrauensfrage. In manchen Betrieben reichte zum Rücktritt der Führung allein die Drohung aus, die Belegschaft abstimmen zu lassen.
In anderen Fällen bedurfte es der Abstimmungsniederlage, aber in nicht wenigen Betrieben ging die Betriebsleitung gestärkt aus einer Abstimmung heraus - hier wurde versäumt, eine überzeugende Alternative zu den bisherigen Chefs aufzustellen.
Es fehle überhaupt an geeigneten Führungskräften, hat Christoph Scherrer bemerkt, der auf Initiative einiger Kreisverwaltungen der Gewerkschaft ÖTV die neuen BetriebsrätInnen in Wirtschaftsfragen berät. Es gibt wenig unbelastete „Führungskader“, die sich die Leitung eines Betriebes in der Marktwirtschaft zutrauen. Statt dessen herrscht weit und breit Inkompetenz, die gepaart ist mit einem ausgeprägten Instinkt für Seilschaften.
So gibt es den Satzungsentwurf für eine zukünftige Kohle AG mit etwa 50.000 Beschäftigen. Sie sollte als Dachgesellschaft die in die rechtliche Selbständigkeit entlassenen Gruben beherrschen (wobei schlauerweise nur eine Gewinnabführung, nicht jedoch eine Verlustübernahme vorgesehen war), aber gleichzeitig sollten diese Tochterunternehmen Anteilseigner der Dachgesellschaft werden.
Damit wäre der Zirkel geschlossen worden: Die Töchter kontrollieren die Mutter, die wiederum die Töchter beherrscht. Anscheinend ist dieses Modell selbst der Treuhandanstalt, die die Umwandlung der volkseigenen Betriebe in Kapitalgesellschaften übersieht, zu seltsam vorgekommen.
Diese Treuhand läßt es ansonsten zu, daß die Betriebsdirektoren ihre eigenen Treuhänder aussuchen, das heißt die Personen, die für die Treuhandanstalt die Eigentumsinteressen gegenüber den umgewandelten Betrieben wahren. Andererseits lehnt sie weitergehende Mitbestimmungsrechte der Belegschaften ab.
Versäumnisse
der Gewerkschaften
Für Scherrer erfolgt dies aber auch aufgrund der großen Versäumnisse der Gewerkschaften. Zwar habe die IG Metall in der Büromaschinenfabrik Sömmerda ein interessantes Modell der Belegschaftsbeteiligung ausgearbeitet, aber „welches Unternehmen in der DDR wird demnächst so florieren, daß man der Belegschaft guten Gewissens raten kann, sich daran zu beteiligen“? Erst im Juni, als in den meisten Betrieben die Satzung bereits von den Belegschaftsvertretern „abgenickt“ war, wurde ein alternativer Entwurf veröffentlicht, der aufzeigt, wie auch ohne eine Beteiligung am Grundkapital die Mitbestimmungsrechte der Belegschaft gestärkt werden können.
Überhaupt sind die neuen BelegschaftsvertreterInnen hoffnungslos mit der Umwandlung überfordert worden. Es fehlen die einfachsten Orientierungshilfen, so daß die Betriebsdirektoren nach eigenem Gutdünken verfahren konnten. Und wie sie verfuhren!
Bei einem Leipziger Druckmaschinenwerk setzte sich fast die gesamte Kombinatsleitung in einen kleinen Zweigbetrieb ab, dem gute Überlebenschancen nachgesagt werden. In anderen Betrieben werden mit Vorliebe die Ingenieursabteilungen als selbständige Unternehmen aus dem alten Kombinatsverband herausgelöst. „Nun dürfen die Herren und Frauen Ingenieure“, schimpft Scherrer, „selbst sehen, wie sie gegen -zig andere überbesetzte Ingenieurbüros, ganz zu schweigen gegen die eingespielten Westbüros antreten wollen.“
Als unternehmerische Glanzleistungen werden Verträge mit westlichen Unternehmen angepriesen. So dürfen sich die Beschäftigen eines Blutspende-Instituts darüber freuen, nur noch Blut abzapfen zu dürfen und fertige Blutpräparate zu verkaufen. Die Verarbeitung findet mittlerweise in Westdeutschland statt.
Es scheint, führt Scherrer aus, als wollten die Betriebsdirektoren ihre neuen Managerqualitäten durch einen möglichst raschen Personalabbau unter Beweis stellen. Dabei kümmern sie sich weder um gültiges DDR-Recht noch um die neuen bundesdeutschen Regelungen. Der Verweis auf die leeren Kassen reicht zumeist aus, den neuen BetriebsrätInnen die Zustimmung abzugewinnen. „Fasse mal einem nackten Menschen in die Tasche“, lautet der Standardspruch.
Von der Möglichkeit, mit Kurzarbeitergeld oder von der Treuhandanstalt garantierten Liquiditätshilfen, Entlassungen zunächst zu vermeiden, erfahren die BetriebsrätInnen zumindest von ihren Betriebsleitern nichts. Sie scheinen aber auch nicht nachzufragen. Berthold Huber wußte noch von einem Betriebsrat zu berichten, der auf die Frage, warum er gerade der Entlassung von 180 Werktätigen zugestimmt hätte, lapidar antwortete: „In diesen Zeiten muß jeder nach sich selbst schauen.“
Warum also mochte sich niemand einen Erfahrungsbericht von den Stahlwerkern aus Rheinhausen anhören? Die BetriebsratsberaterInnen grübelten über Gesetzesgläubigkeit, Staatsgläubigkeit, Sinnesüberreizung, Risikoscheu und Verdrängung, doch letztlich war das Warum keinem so klar. Trost kam nur aus dem Munde des Rheinhauseners selbst: die Kumpels dort hätten auch jahrelang dem Arbeitsplatzabbau tatenlos zugesehen. Der Funke sprang erst, als es ans Eingemachte ging, dem Standort selber.
Hofft einer der Gewerkschafter: „Vielleicht ist es ja im Herbst so weit.“
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