: Ohnmacht am Kassenschalter
■ Über den Katzenjammer vorm Kaufrausch
Nachts um zwölf im Zentrum der Hauptstadt: Die ersten Minuten der Währungsunion finden auf der Straße statt - als Verkehrschaos. Während Unter den Linden die Begleitmusik zur Vereinigung in Form eines deutsch-deutschen Hupkonzerts geprobt wird, gehen auf dem Alex ein paar einsame Böller in die Luft, und über die Karl-Liebknecht-Straße brettert ein westdeutscher Mittelklassewagen mit Reichsadler-Fahne am Autostau vorbei. Was macht der Deutsche, wenn er sich freut? Er trinkt Bier, wedelt Fähnchen und drückt auf die Tube.
Alle, alle waren gekommen: Heerscharen von Fußgängern flanierten in die Zeitenwende, die Menge voller Lust auf Feier und Vorlust auf harte Währung, bloß: ein Fest fand nicht statt. Kein Tanz ums Goldene Kalb, kein Sturm auf die Geldinstitute, bloß tumbe Gegenwart von künftigen Kontoinhabern und schaulustigen Westlern. Geduldig rückt die kilometerlange Schlange vor der Deutschen Bank Zentimeter um Zentimeter nach vorne. Zwar brüllen einige: „Aufmachen, aufmachen“, aber die auf die D-Mark losgelassene Menge verhält sich ansonsten brav wie die Kinderschar an Heiligabend vor der Wohnzimmertür. An den Fensterscheiben drücken sie sich die Nasen platt, aber da liegen nur ein paar Frauen flach auf dem Boden, Beine auf Stuhllehnen und von Krankenschwestern gehätschelt. Im Zentrum des Orkans: die Ohnmacht. Vor dem Kaufrausch die Katerstimmung. Daß dann doch noch ein paar Scheiben zu Bruch gingen, war nicht kollektiver Hysterie, sondern schlicht dem physischen Druck zu schulden. Und vor den Auslagen des ehemaligen Kaufhauses Zentrum studieren die Kunden in spe die Westware; nur die Preise fehlen noch. Bloß einen Meter entfernt fein säuberlich aufgereiht der Bordeaux neben dem Trollinger, Whisky, Sherry, Amaretto - auf dem ganzen Alex gibt's kaum Bier. Aber man bleibt nüchtern und hält sich an die Öffnungszeiten.
Was hätte das für ein Fest werden können: Der Senat spendiert dem Magistrat ein Feuerwerk, Amiga beschallt die City mit Liza Minellis Money makes the world go round, die „Deutsche Bank“ läßt blaue Luftballons in den Himmel über Berlin steigen, und die Kids lassen sie platzen. Und auf dem Prenzlauer Berg wärmt sich die Szene an den Johannis -Feuerchen der DDR-Mark-Scheine...
Stattdessen angespannte Friedhofsruhe: Das mitternächtliche Hupkonzert kaschierte nur mühsam die Unfähigkeit der Deutschen zu feiern und das Schwinden der Sinne angesichts der Macht des Geldes. Selten hat der Triumph des Kapitals einen treffenderes Sinnbild gefunden als in der Ohnmacht am Kassenschalter.
Christiane Peitz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen