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„Keine Zeit für Lernprozesse“

■ Frauenpolitikerinnen wollen Weichenstellung doch noch zugunsten der Frauen ändern / Erste parteienübergreifende Konferenz in Schwerin begann mit Aufbau gesamtdeutscher Frauenlobby

Von Christine Weber-Herfort

Schwerin (taz) - „Wahnsinn! Wenn ich meine Stimmung heute und in den letzten Wochen und Monaten beschreiben soll, so ist das ein Schwanken zwischen Angst, Verzweiflung und Trauer und Mut, Hoffnung und Vertrauen. Einfach Wahn-Sinn.“ Karin Bresemann, Frauenpolitikerin aus Rostock, traf die widersprüchlichen Gefühle genau. Der Vereinigungszug ist abgefahren, bleiben die Frauen auf der Strecke? Läßt sich die Weichenstellung doch noch zugunsten der Frauen verändern? Um diese Fragen ging es bei der ersten Konferenz für Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern, initiiert von der Schweriner Frauenbeauftragten Willer und der schleswig -holsteinischen Frauenministerin Böhrk.

Karin Bresemann, einzige Frau unter 14 Männern in der Bezirksverwaltungsbehörde Rostock und auf das Ressort „Frauen und Familie“ verwiesen, fordert zum Beispiel Rederecht, Vetorecht, Initiativrecht und ein Vertagungsrecht für die Belange der Frauen. Sie untertützt das erste Frauenhausprojekt in Rostock, schiebt Selbsthilfegruppen mit an und -das ist im Moment am dringlichsten- versucht, die Frauen zu informieren. „Dabei kenne ich selbst viele Gesetze überhaupt noch nicht, habe keine Informationen über Umschulungsmodelle.“

So wie Karin Bresemann geht es vielen Frauen in der DDR, auch wenn sie an Schaltstellen in Behörden, Verbänden oder Gewerkschaften stehen. Die Überwindung des Informationsdefizites, der Aufbau eines Netzwerkes, die „Gründung einer Frauenlobby“ (Frauenministerin Böhrk) war so auch Ziel dieser ersten partei- und verbandsübergreifenden Frauenkonferenz von Frauen aus dem Norden der beiden Deutschländer.

„Wir haben keine Zeit für Lernprozesse, keine Zeit für ruhiges Abwägen. Besonders wir Frauen müssen uns jetzt sehr schnell zu Wort melden, bevor alle Weichen gestellt sind“, ermahnte Frauenministerin Gisela Böhrk die etwa 160 Frauen aus der DDR und 70 Frauen aus der BRD, die nach Schwerin gekommen waren.

Ist es für eine Änderung der Weichenstellung nicht schon zu spät? Denn: Rechtswidrige Entlassungen von Frauen sind an der Tagesordnung. In vielen Betrieben zeichnet sich ab, daß Frauen ihre Arbeitsplätze teilen sollen. Die Schließung von Betriebskindergärten wird auf kaltem Wege durchgesetzt: Man entläßt das technische Personal, und wenn nicht mehr geheizt, gekocht oder geputzt werden kann, erledigt sich das Problem von alleine. Der Rat der Stadt Schwerin beschloß, so wurde berichtet, daß Eltern ihren Anspruch auf einen Kindergartenplatz verlieren, wenn ein Elternteil mehr als sechs Wochen arbeitslos wird. Die Kosten für die Schulspeisung wird von 55 Pfennigen auf vier Mark pro Tag erhöht, gleichzeitig steigen die Fahrtkosten für die Schulbusse.

Frauen

auf dem Abstellgleis?

Sind die Frauen schon auf dem Abstellgleis gelandet, so wie es von den Lokomotivführern des Vereinigungszuges gewollt war? Sie widmen im Staatsvertrag den Rechten der Frauen genau einen Satz: „Die Belange von Frauen und Behinderten werden berücksichtigt.“ Wie das praktisch vor sich geht, vermittelte der Direktor des Landesarbeitsamtes Schleswig -Holstein und Hamburg Dr. Koglin. Er legte los: „Arbeitslosigkeit ist eine individuelles Problem ... Nicht diejenigen, die am ersten und am lautesten schreien, sind die, denen geholfen werden muß ... Wer heute arbeitslos wird, hat meistens das Problem, daß er innerhalb eines bestimmten Wettbewerbs nicht wettbewerbsfähig war ...“ Landesweit wird deshalb in der DDR dafür gesorgt, daß die Probleme der Kinderbetreuung Ost mit denen der Kinderbetreuung West vereinigt werden. Das beschränkt die Wettbewerbsfähigkeit von Frauen. Vier Forderungen, so Frauenministerin Böhrk, sind vordringlich:

-Fortbestand der Kindergärten und Kinderkrippen. Finanzierung durch die Bundesregierung

-Beibehaltung der DDR-Fristenregelung für eine Übergangsphase von bis zu fünf Jahren. Es soll ein Gesetz erarbeitet werden, das neben einer Fristenregelung ein plurales und freiwilliges Aufklärungskonzept beinhaltet.

-Qualifizierungsprogramme für Frauen entsprechend ihrem Beschäftigungsanteil.

-Keine 470-Mark-Arbeitsverhältnisse in der DDR.

Woher allerdings die Kraft dafür kommen soll, bleibt noch ungewiß. „Wir sind verunsichert. Solche Sachen sind wir nicht gewohnt“, stellte eine Frau aus der Arbeitsgruppe „Soziale Absicherung und Arbeitsrecht“ fest, und eine andere fragte mit Bedacht: „Welchen Einfluß hat die Bevölkerung der DDR, daß eine Gesetzesvorlage bei Ihnen geändert wird?“ Das ungläubige Staunen darüber, daß die Bedingungen für die Vereinigung in der BRD festgelegt wurden, um dann der DDR übergestülpt zu werden, hat sich noch nicht gelegt.

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