: Ligatschow hält sein Fähnchen hoch
■ Die konservativen Mitglieder des Politbüros bekannten sich zwar zum Marxismus-Leninismus, doch schlugen sie auf dem Parteitag versöhnliche Töne an / Ihre Mehrheit zeichnet sich bereits ab
Aus Moskau Barbara Kerneck
„Die Partei hat ihre Dickhäutigkeit verloren“, konstatierte vor Beginn dieses Parteitags der Abgeordnete des Obersten Sowjet und Parteitagsdeputierte Alexander Jemeljanow in der Zeitschrift 'Ogonjok‘. Tatsächlich hat sich bereits an den ersten beiden Tagen des Massenspektakels gezeigt, daß fast alle gesellschaftlichen Strömungen, die in allen Sphären und Nationalitäten der Sowjetunion leben, auch diesen Parteitag durchdringen. Was die Fraktionierung anbetrifft, so waren es bisher immer wieder Vertreter der radikalliberalen „Demokratischen Plattform“, die die Mandatskomission mit Anfragen plagten. Doch die Konservativen kamen bisher in ihren Redebeiträgen mehr zu Wort.
Ihrerseits auffallend gemäßigt gaben sich dem Generalsekretär gegenüber die Hardliner unter den Politbüromitgliedern: Jegor Ligatschow am Montag abend und am Dienstag der ehemalige russische Ministerpräsident Jasow, der als letzter kurz vor der Halbzeitpause am Dienstag sprach und dabei einen Schächeanfall erlitt. Angesichts der Spannung, mit der sie erwartet wurde, wirkte Jegor Ligatschows Rede geradezu wie eine kalte Dusche gegenüber den Erwartungen. Ligatschow stellte sich ausdrücklich hinter den Vortrag des Generalsekretärs: „Ich sehe keine Alternative zur Perestroika, aber ohne die Partei ist die Perestroika aussichtslos.“ Ansonsten beschränkte er sich auf eine Aufzählung seiner bewährten Hobbies: Die dringend notwendige Erhöhung der Investitionen in die Agrarpolitik, für die Ligatschow verantwortlich zeichnet, der Klassenkampf, den man bei allem nicht vergessen dürfe, und der Umstand, daß es bei aller Perestroika doch nie wieder zu einer Vorherrschaft des Privateigentums im Lande kommen dürfe. „Ich bin tief davon überzeugt, daß die Partei marxistisch-leninistisch bleiben wird“, erklärte er.
Dem konnte Verteidigungsminister Jasow nur zustimmen. Er bekannte sich einerseits zu Außenminister Schewardnadse Friedens- und Sicherheitspolitik: „Die Sicherheit kann nur eine gemeinsame und gleiche sein“, auch ein Verbalbekenntnis zu Glasnost gab er ab, führte aber dann den obligatorischen Hieb gegen die Reformpresse. Die Trennung zwischen Partei und Staat soll, so scheint es, für den Staat im Staate nicht gelten.
Fast als flammender Angriff wirkte dagegen die Rede Alexander Jakowlews am Montag abend angesichts der Tatsache, daß 45 Prozent der im Saal Anwesenden freigestellte Mitarbeiter des Apparates waren, zusammen mit den Deputierten aus den mittelasiatischen Republiken vermutlich eine solide konservative Mehrheit. Jakowlew sagte, er sei überzeugt von der „historischen Richtigkeit“ der Wahl des Jahres 1985 und von ihrer „tiefen Sittlichkeit“. Mit der KPdSU sei ein „Unglück“ geschehen, weil sie sich von einer „Partei der revolutionären Idee“ in eine „Partei der Macht“ verwandelt habe, sie leide unter der „Konfrontation zwischen der inspirierenden Idee der Volksherrschaft und der zersetzenden Praxis der Volksunterdrückung“. Ohne genau zu definieren, auf welche gesellschaftliche Gruppe sich seine Aussage bezog, konstatierte Jakowlew, daß unter anderem noch immmer „Zynismus“, „Lumpenproletariatsmentalität“ und „Karrierismus“ herrschten. Jakowlew, der außer der Kommission für Außenpolitik auch der Kommission zur Sichtung von Dokumenten über Repressalien in der Stalinzeit vorsitzt, erwähnte in diesem Zusammenhang, daß inzwischen der „gute Name“ von Millionen von Kommunisten wiederhergestellt sei. Sein Bericht endete mit einer explizit politischen Forderung: „Nur durch eine Bewegung nach links und Verjüngung“ könne die Partei das Land auch weiterhin auf den Weg der Erneuerung führen.
Schewardnadse ging auf die Argumentation der Konservativen ein und sprach einen ihrer wunden Punkte an: Die Sowjetunion werde mit einem vereinten Deutschland auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet zu beider Vorteil zusammenarbeiten.
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