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Eine Kunst, die niemand beherscht

■ Eric Rochants Debutfilm „Eine Welt ohne Mitleid“

Beineix, Carax, Besson: Das junge französische Kino ist kalt. Mit Vorliebe blau, gestylt, kalkuliert. Konstruierte Raffinesse, perfektes Handwerk. In meinen Augen hat es nur einen Fehler: Es hält das Handwerk schon für die ganze Kunst. Eine fatale Verwechslung.

Eric Rochant beherrscht sein Handwerk längst nicht so gut. In Eine Welt ohne Mitleid - seinem ersten Langfilm gibt es keine raffinierte Kamerafahrt, kein ausgeklügeltes System von Farbe und Design. Er beherscht es nicht einmal so gut, als daß er zu Beginn einer Szene wüßte, wie sie endet. Sein Metier ist altmodisches Erzählkino: Eine Welt ohne Mitleid - eine Liebesgeschichte.

Aber auch das stimmt nicht ganz. Rochant erzählt keine stringente Geschichte. Er schnappt sie bloß auf. Wenn sie ihm zu entwischen droht, läuft er ihr hinterher. Aber dingfest macht er sie nie.

Hippo ist ein Herumtreiber. Abgebrochenes Studium, kein Job, eine chaotische WG, ein kleiner Bruder, der Abitur machen soll, aber statt dessen mit Drogen dealt. Und ein geklautes Auto, in das er durch die Hintertür einsteigen muß. Wenn er damit durch Paris fährt, sieht Paris aus wie San Francisco. Und wenn die Polizei ihn kontrollieren will, hält er eine flammende Rede, daß er nichts habe, kein Geld, keinen Job, keine funktionierende Fahrertür. Bis der Beamte ihn fahren läßt. Hippo entwischt immer.

Ab und zu tut er doch etwas. Er zockt, wirft einen flüchtigen Blick auf die Stellenanzeigen oder trifft sich mit seiner Freundin Francine. Aber eigentlich ist er sie leid.

Dann trifft er Nathalie. Nathalie ist das Gegenteil von Hippo. Dolmetscherin, Karrierefrau, zielstrebig. Und sie ist wunderschön. „Eine Ashkenase“, verrät sein Freund Halpern. Hippo hat keine Chance. Kaum hat er sie gesehen, ist sie wieder verschwunden.

Hippo sucht Nathalie. Sie soll sich öfter in der Bibliothek der Sorbonne aufhalten. Also beschreibt er der Bibliothekarin die Frau seiner Träume, improvisiert eine Hymne auf die Liebe, bis auch sie seinen Worten erliegt und ihm die Immatrikulationsliste über den Tresen schiebt.

Dann sieht er sie, vom Auto aus, an der Bushaltestelle. Er fordert sie zum Einsteigen auf, sie weigert sich. Er bittet sie, fleht. Ein Passant mischt sich ein: Riskieren sie was, sagt er zu Nathalie. Auch die andern an der Bushaltestelle diskutieren mit. Wieder so ein Moment, in dem Rochant seine Geschichte losläßt. Der Dialog verwandelt sich in ein Straßengespräch, der geschlossene Plot zum offenen Spiel. Wenn Rochant ein Drehbuch geschrieben hat, dann nur, um es freimütig zu ignorieren. Nathalie steigt ein.

Hippo beschreibt sein Glück: „Ich habe einen Bruder, einen guten Kumpel und eine wunderschöne Freundin. Wenn alle auf der Welt das hätten, gäbe es weniger Chaos.“ In der Nacht steht er auf dem Balkon und zeigt Nathalie die Dächer von Paris. Ein Postkartenidyll. Hippo zeigt auf den erleuchteten Eiffelturm. Er sagt: Gleich geht der Eiffelturm aus. Er schnippt mit den Fingern, und der Eiffelturm geht aus. Jetzt ist Paris schwarz. Die Romantik ist der Moment, in dem es vorbei ist.

Ein Film wie ein Fingerschnipsen. Das Warten auf den Telefonanruf, Hippos Clique im Quartier Latin, die Feten, das erste Rendezvous. Lauter Klischees. Aber Eric Rochant zeigt sie von hinten. Hippos Exfreundin Francine kommt zu Besuch, Hippo will sie nicht treffen. Also springt er aus dem Fenster und balanciert, in schwindelnder Höhe, auf dem Fassadensims. Durch die geöffneten Fenster sieht er Francine, die Fragmente einer Szene, die sie ihm machen will. Aber er ist ja unsichtbar. Dann klingelt das Telefon: Nathalie. Und Hippo springt ins Zimmer zurück, ganz so, als sei seine Wohnung die Bühne und das Telefonklingeln das Stichwort für seinen Auftritt.

Vielleicht ist das Rochants Geheimnis: Weder dokumentiert er, was man kennt und wie man selber ist, noch inszeniert er es. Er zeigt lediglich, daß man sich in Szene setzt, wenn man, scheinbar authentisch, handelt. Das Inszenierte am Spontanen, die Distanz bei der Selbstdarstellung. Wenn die Liebe ein Theater ist, dann steht Rochant hinter den Kulissen.

Eric Rochant ist so alt wie seine Protagonisten, 28 Jahre. Eine Welt ohne Mitleid bekam den diesjährigen Cesar für Debutfilme, in Paris gilt er längst als Kultfilm. Auch Beineix‘, Carax‘ und Bessons Filme sind erfolgreich in Frankreich. Aber bei Rochants Kino wird einem warm ums Herz. Wenn die Kälte der anderen ihre Ursache darin hat, daß sie ihr Handwerk mit der Kunst verwechseln, dann hat Rochants Warmherzigkeit damit zu tun, daß er nicht das Kino für die Kunst hält, sondern das Leben. Für eine Kunst, die niemand beherrscht.

Christiane Peitz

Eric Rochant: Eine Welt ohne Mitleid, mit Mireille Perrier, Hippolyte Girardot, Yvan Attal, Frankreich 1989, 84 Min.

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