piwik no script img

Die Sumpfblüte

 ■ St. Petersburg um 1800 - Eine Ausstellung in Essen

Von Frank Schüre

AAus dem heutigen Leningrad (ehemals St. Petersburg) erreichen uns ähnliche Verfallsnachrichten wie überall aus Osteuropa in den letzten Monaten. Ausgerechnet in dieser Zeit präsentiert die Villa Hügel in Essen „ein goldenes Zeitalter“: St. Petersburg um 1800. Die Ausstellung will „nicht referierender Rückblick, sondern aktueller Beitrag zum Zeitgeschehen“ sein. Nun kann man sich fragen, was denn die Darstellung eines derart prunkvoll angekündeten Zeitraums der russischen Geschichte zur momentanen Situation beiträgt - und sich wundern, daß hier ein Adjektiv den Untertitel der Ausstellung illuminiert, dessen schwindelerregende Wirkung doch eher in den Bereich des Märchenhaften gehört.

Es geht um eine Stadt, deren Karriere beispielhaft ist für die einer ehrgeizigen Aufsteigerin. Ausgewählt für den „aktuellen Beitrag“ in Essen wurde mit zielsicherem Griff die prächtigste Epoche St. Petersburgs. Die Zeit PavelsI. und AleksandrsI., zweier russischer Kaiser, die hundert Jahre nach der „dramatischen Öffnung“ Rußlands nach Westen, in Gestalt dieser Hauptstadtgründung, deren Vollzug lediglich verwalteten.

Gemeinhin sind „goldene Zeiten“ geprägt von Saturiertheit und dem allgemeinen Bemühen, mit glänzenden Fassaden die tiefer liegenden gesellschaftlichen Widersprüche zu planieren. Die Reichweite solcher Stimmung und Ambitionen in St. Petersburg um 1800 demonstriert die Ausstellung in Essen mit Akribie. Die fabelhafte Zahl von „555 Leihgaben der Eremitage in Leningrad“ formiert sich in bruchloser Parade zum strahlenden Bildnis der blutjungen russischen Residenz: schöner Leben um 1800!

Nach Vorlage der Hofarchitekten NapoleonsI. wurde in St. Petersburg dem „Empire“, welcher als reiner „Dekorationsstil“ innerhalb des Klassizismus die Krönung höfischer Inszenierung menschlichen Lebensraums darstellte, gehuldigt. In Essen sind neben Gemälden, Landschaftsbildern (Veduten) und Lithographien eine Vielzahl von Gläsern, Vasen, Tellern, Terrinen, Kleidungsstücken, Fahnen, Waffen und Möbeln zu besichtigen, welche allesamt das Vorwort „Prunk“ verdienen.

Die Bilder sind fast ausnahmslos vom beruhigenden Gesetz der Symmetrie und dem bunten Anspruch der Illustration beherrscht. Aus dem erhöhten Blickwinkel werden Stadtansichten, Landschaften und Truppenaufmärsche dargestellt, deren Stimmung getränkt ist von arkadischen und Ordnungsbedürfnissen. Akkurat und dekorativ ordnen sich darauf Personal und Architektur zu einem harmonischen Ganzen. Und auch die Galerie der Accessoires und Requisiten aus dem Petersburg um 1800 wirkt in ihrer Kostbarkeit nichtssagend wie das Schaufensterangebot einer Edelboutique: Der Petersburger Klassizismus ist eine Kunst des Ensembles, voll restaurativer Elemente und permanent im Einzugsbereich musealer Erstarrung.

In solcher Verfassung ist die russischen Hauptstadt gerade mal hundert Jahre alt - für eine Metropole eine brisante Tatsache, denn normalerweise befindet sich eine Stadt dieses Alters noch in den Kinderschuhen. Entsprechend heftig und stets wie einige Nummern zu groß wirkt die arrangierte Selbstdarstellung dieser extrem frühreifen Metropole.

Es begab sich am 16.Mai 1703, als PeterI., damals noch ein richtiger Zar, nach aufreibenden aber siegreichen Kämpfen gegen die Schweden, ein eisfreies Fleckchen Küste (mit „fließend Wasser“: der Neva) gesichert hatte und daraufhin seinen größten Wunsch in die Tat umsetzte: „Ein Fenster nach Europa hin... zu bringen uns fremdländische Gäste“, wie Alexander Puschkin, der berühmteste Dichter in Petersburg um 1800, dies poetisch umschreibt. Die Wirklichkeit war demgegenüber ausgesprochen prosaisch, was einen Zaren natürlich nicht aufzuhalten vermochte. Ohne zu zögern wurde unter der handfesten Aufsicht PetersI. in der östlichsten Spitze des Finnischen Meerbusens „eine Fortifikation errichtet und ihr Name Sankt Pietersburch gegeben“.

Das Problem dieses Standorts und alle sich daraus ergebenden Schwierigkeiten beim forcierten Aufbau Petersburgs lassen sich in einem Wort zusammenfassen: Sumpf! Die Antwort des Zaren darauf kam ebenso bündig: Granit! Jeder kennt dieses Handfechtspiel, bei welchem nach einem Abzählreim zwei Symbole gegeneinander gehalten werden: Schere schneidet Papier, und Papier deckt Brunnen; Stein macht Schere stumpf, zerreißt Papier und fällt...

PeterI. löste dieses Standortproblem mittels Masse: Der Bau der ersten großen (und natürlich militärischen) Anlage, der Peter-und-Pauls-Festung, kostete allein 100.000 Menschenleben - „Petersburg ist tatsächlich eine auf Menschenknochen errichtete Stadt“ (L.Tarasova). Den akuten Steinmangel infolge des rasanten Bauens behob der Zar durch das Verbot aller Steinbauten in Rußland mit Ausnahme St. Petersburg und durch einen „Steinzoll“, der auf jede Fuhre in die Stadt entrichtet werden mußte.

Der männliche Gewaltakt gelang: Frei von jeder irdischen Verantwortung für die Kosten seiner Unternehmungen schuf PeterI. mit Gottes Gnaden die neue Hauptstadt des russischen Imperiums. Nikolai Gogol beschreibt die habituelle und materielle Struktur dieser in den Sumpf gestampften Metropole, wenn er sagt: „Moskau ist weiblichen Geschlechts, Petersburg männlich„; Moskau ist „aus weißem Stein erbaut“, Petersburg aus Granit gehauen. Auch Professor Paul Vogt räumte anläßlich der Ausstellungseröffnung in Essen zu den dort „versammelten Zeugnissen“ ein: „Sie verschweigen uns die dunkle Seite der Geschichte, enthüllen nicht die latenten und bis heute fortdauernden Spannungen zwischen den sogenannten 'Westlern‘ und den 'Slawophilen'„; gemeint sind damit die Petersburger und die „Restrussen“. Mit der Gründung St. Petersburgs kommt es zur tiefen russischen Bewußtseinsspaltung zwischen westlicher Prägung und östlicher Fundierung.

In dem mit aller Kraft zum Blühen gebrachten Petersburg galt das auch heute wieder aktuelle Pauschalurteil: Das Beste kommt aus dem Westen! Mit dieser Orientierung wurde der Stadt ein Schnellwuchs verordnet, der schon damals vielen Beobachtern Sorgen bereitete. Fundiert auf Knochen und Granit und geordnet von Gardesoldaten, die Petersburg in Massen bevölkerten und deren Bild (auch in der Ausstellung) prägten, wurden Kunst, Wissenschaft, Architektur und deren Hersteller aus Europa importiert und in den Akademien „eingepflanzt“. Die Fruchtbarkeit dieses russischen Kaufrauschs von „Westkunst“ beschreibt der Historiker V.Lukomski so: „Diese Kleinmeister, Absolventen der Petersburger Akademie, wuchsen unter den gleichen wachstumfeindlichen Bedingungen auf wie die im finnischen Sumpfboden angelegten verfaulten Gärtchen, die aus Bäumen bestehen, die über Hunderte von Verst herangeschafft worden sind.“

Viele der ausgestellten Gemälde tragen daher westeuropäische Signaturen (B. Patersson, J.W.G. Barth; das schönste stammt von Caspar David Friedrich, dem der Petersburger Hof insgesamt neun Gemälde abkaufte und zuletzt sogar eine lebenswichtige Rente nach Dresden überwies) - der Rest kommt von deren russischen Schülern.

In St. Petersburg um 1800 regierte zuerst PavelI., welcher dem gesamten Stadtleben ein strenges Kasernenreglement auferlegte: Aufstehen, Zu-Bett-Gehen, Ausgang und öffentliches Verhalten waren penibel vorgeschrieben. Kirche, Kunst, Wissenschaft, Literatur und Theater standen unter kaiserlicher Aufsicht. Diesen eitlen und pedantischen Herrscher, den ausländische Diplomaten als „wirklichen Geisteskranken“ beschreiben, charakterisiert sein Sohn: „Mein Vater hat dem gesunden Menschenverstand den Krieg erklärt - und dies mit der festen Absicht, niemals Frieden zu schließen.“

1801 wird Pavel daher, mit Wissen seines anderen Sohnes und Nachfolgers AleksandrI., von Gardeoffizieren „erstickt und erwürgt“ - so geht das. Der nächste Kaiser war einer, den ein Jugendfreund und langer Bekannter so kennzeichnet: „Der Kaiser liebte die Formen der Freiheit gerade so, wie man ein Spektakel liebt. Ihm gefiehl der äußere Effekt einer Volksvertretung, und diese wurde zum Ziel seiner Eitelkeit; aber er wünschte doch nur die Formen und den Anschein, nicht aber ihre tatsächliche Realisierung.“ Und die welterfahrene Madame de Stael erkannte sofort, daß dieser liberale Träumer in tiefster Seele ein Despot war - schlechte Zeiten für Reformen in Petersburg.

Der größte kriegspolitische Erfolg AlexandersI. war die Niederlage der „Grande Armee“ Napoleons im Winter 1812 vor Moskau, das der russische Kaiser zu diesem Zweck evakuieren und niederbrennen ließ. In der Villa Hügel sind hierzu eine Reihe großformatiger Hau- und Stechgemälde voll Kameradschaft und Heroik sowie zwei Medaillien und ein Brustkreuz mit der Aufschrift „God 1812“ („Das Jahr 1812“) zu sehen. Dieses „Grande Ereignis“ hat für die Leningrader eine besondere Bedeutung, da sie während der 900tägigen Belagerung Leningrads durch Hitlertruppen mit der vaterländischen Erinnerung an „God 1812“ bei Laune gehalten wurden.

In Raum1, der direkt an die Fahnen- und Medaillenkammern anschließt, erreicht die Essener Ausstellung einen Inszenierungshöhepunkt: Veduten herrschaftlicher Parkanlagen sind hier in die Zwischenwände der hohen Glastüren des Balkonsaals der Villa Hügel plaziert. Im Wechsel des Blicks vom Essener Villenpark auf das „Landhaus des Grafen Laval auf der Apothekerinsel in Petersburg“ darf der Besucher die Ähnlichkeit der realklassizistischen Parklandschaft der Villa Hügel und der gemalten des „Goldenen Zeitalters“ von Petersburg bemerken - oh, diese raffinierten Ausstellungsarchitekten.

Anders als Moskau, das sich im Laufe der Jahrhunderte aus dem Dunkel der Geschichte wie ein dichter und tief verwurzelter Wald entwickelt, glich ganz Petersburg einer herrschaftlich kultivierten und beaufsichtigten Parklandschaft; einem städtischen Emporkömmling, in dem sich ebensolche Menschen aus ganz Europa tummelten: „Petersburg das ist ein akkurater Mensch, ein vollendeter Deutscher ... Für Petersburg ist ein Wort wie „Beamter“ typisch“ (N.Gogol).

Die blutige Niederschlagung des Dekabristenaufstands (Dezember 1825) gegen den in Mystizismus abtreibenden AleksandrI., der als „gewaltige Verschwörung des ganzen gebildeten Rußlands“ gilt, verabreicht der Stadt den entscheidenden geistigen Aderlaß. Es beginnt der offene Verfall von Ansehen und Gestalt St. Petersburgs - es endet die Ausstellung über eine Stadt, deren Bau als der „glänzendste Fehler Petrs des Großen“ (N.M. Karmzin) und die „größte Vergewaltigung der russischen Geschichte“ (D.S. Mereskvskij) bewertet wurde.

Nach „Barock in Dresden“ und „Prag um 1600“ ist dies der dritte Streich der Essener Hügel-Villa über europäische Metropolen. Im Gegensatz zum rudolfinischen Prag, dessen „Kunst- und Wunderkammer“ hier vor zwei Jahren zu besichtigen war, sind die Ausstellungsmacher diesmal der fatalen Goldfassade Petersburgs um 1800 erlegen. Konnten die Exponate RudolfsII. den Zauber seines einmaligen künstlerisch-wissenschaftlichen „Biotops“ in der ehemaligen Krupp-Villa entfalten, so verflacht die Petersburger Parade zur Künstlichkeit und verbindet sich in diesem Ambiente auf folgenreiche Weise mit den Ausstellungsräumlichkeiten in Essen. In Kohärenz zur neoklassizistischen Atmosphäre der Villa Hügel entsteht hier der Gesamteindruck einer großspurigen und eitlen Geste. Das eigentliche Fundament dieses „Fensters zum Westen“, der Sumpf ist verdrängt.

Der Zerrissenheit und Spannung dieses russischen „Kunstkopfes“ in seiner extremen Situierung als „Babyface“ am westlichen Küstenrand seiner „Riesenmama“ kommt die Essener Ausstellung nicht auf die Spur. „Es ist ein Unglück, in Petersburg zu leben, in dieser beglückendsten und doch zugleich bösartigsten Stadt der Welt“, sagt Dostojewski zu diesem besonderen Lebensgefühl in St. Petersburg des 19.Jahrhunderts, deren schnellebigen und berauschenden Sog man auch von New York her kennt.

Der rasende Bau der russischen Kaiserstadt war ein Ausbruch aus der Behäbigkeit und der konservativen Tradition des Riesenreichs, ein Antipode zu dessen eigentlicher und gewachsener Metropole Moskau. Petersburg erhielt dadurch zwangsläufig Inselcharakter und wurde gerade in seiner Position zwischen Alt und Neu, Osten und Westen zu deren Reibungsfläche. Die daraus resultierende Spannung führte zu der Exzentrik und überdrehten Künstlichkeit, welche das Leben in St. Petersburg im Laufe des 19.Jahrhunderts immer aufdringlicher bestimmte. Auf einem in jeder Hinsicht äußerst instabilen Untergrund war kein Fußfassen möglich, und so entstand hier das Gebilde einer Großstadt, die zwischen dem ersehnten Neuen und dem verdrängten Alten in einer merkwürdigen Schwebe hing: eine Sumpfblüte.

„Wenn sich nun dieser Nebel hebt und nach oben steigt wird sich dann nicht auch diese verfaulte und glitschige Stadt zusammen mit ihm in den Lüften oben auflösen? Steigt einfach mit dem Nebel auf und löst sich in Rauch auf, und übrig bleibt, wie einst, der finnische Sumpf, in seiner Mitte - wie zur Zierde - allein der bronzene Reiter auf seinem dampfenden, sich bäumenden Roß!“ (F.M. Dostojewski)

St. Petersburg um 1800, Villa Hügel, Essen; bis 4. November 1990; Katalog: 580 Seiten, 50 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen