: Es geht um die Wurst
■ Von London bis Mailand zieht sich der Gürtel der Macht durch den neuen Raum Europa: eine Megalopole, die sich von London bis Mailand erstreckt - quer zu allen nationalstaatlichen Grenzen / Entwicklungspotentiale auf achtzehn Prozent des EG-Territoriums beschränkt
Sie ist auf keiner Landkarte verzeichnet, aber für jeden spürbar; sie hat keinen Namen, aber jeder weiß, wo sie liegt: die Boom-Zone Europas. Wie eine kolossale Wurst liegt sie quer über den Grenzen, erstreckt sich von Manchester über Rotterdam und Frankfurt bis nach Mailand in der Lombardei.
Ein dicht geknüpftes Netz von Verkehrswegen, High-Tech -Zonen, Forschungszentren, Börsen, Thinktanks etc. pp. eine mächtige „Megalopole“ und die heimliche Hauptstadt der EG. Außerhalb der Wurst beginnen die Randgebiete, beginnt die Vorstadt Europas, und das wird auch so bleiben im postmuralen Kontinent.
Seit drei Jahren untersucht eine Forschungsgruppe der französischen Raumordnungsbehörde DATAR die Entwicklungspotentiale europäischer Städte. Wer hat die besten Chancen, auf dem hartumkämpften Binnenmarkt zu bestehen, und wer liegt weit ab vom Schuß der neuen Zeit?
Hauptkriterien der Studie waren die internationale Anbindung, die Forschungskapazität und die demographische Entwicklung. Alle Städte der EG mit mehr als 200.000 Einwohnern einschließlich der Schweiz und Österreichs wurden untersucht, durchforstet und bewertet, insgesamt 165 Metropolen. Heraus kam ein Atlas, der eine Hitparade von Europas Städten darstellt: Wer ist die Schönste, Klügste, Reichste im ganzen Kontinent?
London
führt
Die Antwort ist eindeutig. Nimmt man alle sechzehn Indikatoren der Studie zusammen (also etwa Telekommunikation, Kulturangebot, Stärke als Finanzplatz, Zahl der Firmensitze, Spezialisierungen), so liegt London an der Spitze, knapp vor Paris. Die französische Hauptstadt hat zwar bessere Bildungseinrichtungen als London, kann aber trotz aller Liberalisierungen mit der Finanzkraft der City nicht mithalten. An dritter Stelle folgt Mailand, Italiens Boomtown, dann Madrid, München, Frankfurt, Rom, Brüssel und Barcelona. Berlin rangiert - es handelte sich noch um Mauer -Berlin - hinter Manchester und Amsterdam im vorderen Mittelfeld. Völlig abgeschlagen steht Dublin da (noch hinter Utrecht und Hannover).
Die karthographische Umsetzung der Ergebnisse ergibt eben jene Karte mit der Wurst. Irland, Wales, die Bretagne und Nordspanien gehören zu den „finis terrae“, peripheren Gebieten mit wenig Entwicklungschancen: relativ wenige, voneinander isolierte Städte, die, so die Studie, „den Blick auf den Meereshorizont gerichtet hatten, aber von dorther nichts kommen sehen außer Illusionen“. Die Küstenstädte müßten sich folglich in Zukunft auf ihr Hinterland umorientieren.
Süd ist nicht
gleich Süd
Der Süden hat sich aufgeteilt in einen „nördlichen Süden“, der mit einigem Erfolg der Wurst hinterherrennt, und einen „Süden“ im engeren Sinne, Andalusien, Griechenland, Sizilien, der von den verschärften Konkurrenzbedingungen des Binnenmarkts wenig Gutes zu erwarten hat. Der „nördliche Süden“ hat seinen Schwerpunkt im Gebiet Genf/Lyon und zieht sich auf beiden Seiten des Mittelmeers bis nach Valencia und Rom. Der „Norden des Südens“ zeigt ein ähnliches Profil wie der Süden des Nordens (Cote d'Azur, Baden-Württemberg, Südengland): Know-how-intensive Produktion, hohe Qualifizierungen und Konzentration auf den Dienstleistungsbereich.
Der einzige Bereich dagegen, in dem der „südliche Süden“ vorne liegt, ist das Bevölkerungswachstum. Trotz Süd-Nord -Migration wachsen die Großstädte Portugals, Griechenlands und Süditaliens weitaus stärker und schneller als die der nördlicheren Länder.
Das Filetstück Europas aber ist obengenannte Wurst. Auf einem zusammenhängenden Areal, das 18 Prozent des EG -Territoriums ausmacht, liegen genau 50 Prozent der großen Städte, hier zirkuliert das Geld, hier wird entschieden und verdient. Der Kanaltunnel und die geplanten neuen Alpentrassen werden die Strukturfestigkeit der Wurst bis 1992 noch erhöhen. Die DATAR-Gruppe konnte allerdings eine leichtes Abdriften der Boom-Zone nach Süden feststellen. Grund: das Veralten der Industrielandschaften in Mittelengland und die attraktiven Arbeitsmärkte im Süden.
Knapp ein Drittel der Euro-Megalopole liegt auf dem Gebiet der Bundesrepublik, nur 7,2 Prozent in Frankreich. Wieder einmal leidet Frankreich als geographischer Raum unter dem Übergewicht von Paris: das innere Frankreich gilt den DATAR -Forschern als „im europäischen Maßstab unterurbanisiert“. Auch die forcierte Entwicklung des Superschnellzugs TGV, der die Reiseentfernungen zwischen der Hauptstadt und Lyon, Nantes, Strasbourg auf zwei bis drei Stunden zusammenschrumpfen ließ, hatte den perversen Effekt, daß sich größere Provinzfirmen endlich einen Sitz in Paris leisten konnten...
Mauerfall
verstärkt Randlage
Nun hat sich die politische Landkarte Europas bekanntlich etwas verändert, seit die DATAR ihren Bericht abgeschlossen hat. Durch die Freigabe der osteuropäischen Märkte wird sich das Gefälle zwischen Wurst und Rand verstärken - so jedenfalls das Resümee einer Studie, die die EG-Kommission bei Ökonomen aus 58 Ländern in Auftrag gegeben hat und im Juni vorgestellt hat.
Die Bundesrepublik, Österreich, Belgien, Schweden und die Schweiz werden den größten Gewinn aus dem Fall der Mauer ziehen, weil ihre Ökonomien am besten auf die ansteigende Auslandsnachfrage reagieren könnten.
Die EG-Länder der Peripherie, Portugal, Spanien, Irland, aber auch Großbritannien, werden kaum vom Ostmarkt profitieren. Griechenland wird unterm Strich sogar Nachteile haben, weil seine Wettbewerbsfähigkeit durch die neuen Konkurrenten in Ost- und Mitteleuropa verringert wird. Die Wiege Europas wird damit wohl zum Waisenhaus werden - im Schatten der Wurst.
smo
Zu erhalten ist die DATAR-Studie für 120 Francs bei „La Documentation Fran?aise“, 29/31 Quai Voltaire, 75.340 Paris.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen