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Wilhelm Tell und Odysseus

■ Die Schweiz als Vorbild für Europa?

EUROFAN

Die Schweiz als Vorbild für Europa? Manche können sich das vorstellen. Die Schweizer Wirklichkeit ist kaleidoskopisch, und das Land scheint es trefflich zu verstehen, seine Puzzleteile zusammenzuhalten. Aber ist sie deswegen eine Nation? Nein. Franzosen, Amerikaner ziehen ihr Nationalgefühl aus ihrer Nation - die Schweizer aus ihrer Gemeinde. Schweizerische Nationalität? Eine Fiktion.

Die Schweiz hat sich gegen etwas gebildet. Gegen die sie umgebenden Mächte, gegen die Idee eines Zentralstaats. Und die Frage nach ihrer Identität hat sich während ihrer ganzen Geschichte gestellt. Jeder Schweizer liegt naturgemäß über Kreuz mit der Konföderation. Er lebt immer „mit dem Arsch zwischen zwei Kulturen„; einer geschichtlichen, die ihn an die Konföderation bindet; und jener anderen Kultur, die seinen natürlichen Fonds bildet und sich aus fernen Quellen speist wie etwa der Sprache. Die romanische Schweiz schaut nach Paris in Sachen Kultur, nach Bern wegen der Politik und nach Zürich wegen der Ökonomie. Aber wo ist sie selbst?

Der Romano-Schweizer liebt Frankreich und spiegelt sich in ihm wie der Tessiner im Bilde Italiens, aber er fühlt sich deswegen durchaus noch nicht als Franzose. Denn Identität geht in dem Maß verloren, wie die Versuchung wächst, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Genau das geschieht zur Zeit. Jetzt, wo die Schweiz nach ihrer Identität sucht, gerät sie in Gefahr, sich selbstverliebt im eigenen Bild zu spiegeln. So versucht der Tessin, sich von Italien abzugrenzen.

Jetzt, wo die Stunde der europäischen Einigung geschlagen hat, ist Wilhelm Tell - gewiß ein Held der Unabhängigkeit und des Widerstands - schwerlich eine geeignete Identifikationsfigur: felsenfest, unbeweglich, schweigsam, autark und im Abseits. Tell ist kein Symbol der Relation und der Bewegung wie beispielsweise Odysseus, der Mann der Listen und Schliche.

Die gegenwärtige Malaise erfordert von der Schweiz den Mut, ihre „Identitätslücken“ zu leben. In diesem Sinn hat die Schweiz eine Chance, keine Nation zu sein, sondern im Gegenteil ein Hybrid, ein historischer Bastard. Ihre Identität ist natürlich und geschichtlich vielfältig und komplex, kaum ausgemacht. Und wenn darin gerade ihre Chance liegt? Das wahre Vorbild, das sie Europa geben kann? Nicht das einer Konföderation, die alle ihre Probleme, alle ihre Schwierigkeiten des Zusammenlebens gelöst hat wie auf einem Notenpapier. Sondern das eines Landes, das sich selbst fremd bleibt.

Jean-Fran?ois Duval

Der Autor ist Journalist der Schweizer Wochenzeitung 'Construire‘. Gekürzt aus: Liberation

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