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„Superabend“ und „Superspiel“

■ Die Bundesrepublik erreicht durch ein 4:3 im Elfmeterschießen gegen England das Finale

Aus Turin Herr Thömmes

Irgendetwas stimmt da doch nicht. Am Berliner Alexanderplatz eröffnet die Deutsche Bank eine Filiale mitten in der Nacht, und die Leute fallen reihenweise in Ohnmacht, kriegen Atemnot und allerlei andere ekstatische Anfälle; in Turiner „Stadio delle Alpi“ öffnet Deutschland die letzte Tür ins Finale dieser 14. Fußball-WM, und ein paarmal „Sieg, Sieg“ und „Deutschland, Deutschland“ ist alles an Gefühlsausbrüchen.

Natürlich wird später mit dem Auto gehupt, und mit allen anderen möglichen Tröten auch, aber das geschieht doch mehr wie das Absolvieren einer Pflicht, die man als Fan so hat, oder auch als eine Hommage an das Gastgeberland, wo diese Form des synthetischen Jubelns mittlerweile ganz groß in Mode gekommen ist. Im Stadion war es doch eher so, als habe gerade die Qualifikation für die nächste Europameisterschaft mit diesem Spiel begonnen. Nicht nur der Stimmung wegen, sondern auch wegen der 10.000 freien Plätze. Wo waren die 40.000 erwarteten Deutschen, wo die 10.000 Engländer - oder sind ganz einfach die Einheimischen zu Hause geblieben, befallen vom Frust des Vorabends?

Möglicherweise sind auch nur alle ziemlich erschöpft von diesen vier Wochen Fußball, von fünfzigmal 90 Minuten und oft mehr. Es scheint, als könnten viele die Darbietungen nur noch ertragen, und weniger freudig genießen.

Franz Beckenbauer wird das nicht verstehen. Selbst er, dem, wenn wir ihm das einfach einmal glauben, der Erfolg überhaupt nichts bedeutet, hing am Schluß wie ein Klammeräffchen am Hals des Kölner Ersatzspielers Paul Steiner. Und die in den grünen Trikots wußten, als Chris Waddle im Stil eines Uli Hoeneß seinen Elfmeter hoch über die Latte schoß, gar nicht, wohin mit dem Rest an Energie, den sie nach den 120 Minuten noch in sich hatten.

Für den Teamchef war es ein „Superabend“ und ein „Superspiel“, aber der sieht das von der Bank ja auch alles aus anderer Perspektive und außerdem: Was für Überraschungen hat dieser so nüchtern kalkulierende Manager immer auf Lager? „Hast du schon gehört, Häßler und Thon für Littbarski und Bein!?“ Etwas amüsiert über die Sprunghaftigkeit des Teamchefs ohne Trainerschein machte die Frage vor dem Spiel die Runde, und nicht weniger geplättet dürften die Betroffenen selbst gewesen sein.

Olaf Thon jedenfalls hatte noch am Vortag bereits als Aktivist Abschied genommen und erzählt: „Ich mache jetzt hier noch ein paar Tage Urlaub, und wenn die anderen Weltmeister werden, werde ich Waldmeister.“ Dann stand er plötzlich auf dem Feld, hatte anfgangs sichtlich Orientierungsschwierigkeiten, und nutzte diese ungewohnte Chance sich zu profilieren doch. Lob vom Chef: „Superspiel“.

Ähnlich euphorisch zeigte sich der Sportchef vom Mailänder 'Giorno di mattina‘, der sein „bestes Spiel“ bei dieser WM zu sehen glaubte, und die italienische Mannschaft als einen „großen Bluff“ der Fußballgeschichte festschreiben wollte, Jedenfalls war es das beste Spiel der Engländer während dieses Turniers, und nachdem Gascoigne zu Beginn gleich Illgner zum Strecksprung zwang und drei Eckbälle während der ersten zwei Minuten vor das deutsche Tor segelten, wurden Erinnerungen geweckt an Neapel, wo auch ein Holperteam den hohen und bis dahin souveränen Favoriten ausgehoben hatte.

Waddle, Platt und Gascoigne dominierten nicht nur im Mittelfeld durch ihre größere physische Präsenz die schmalen Matthäus, Häßler und Thon, zumal sich der Kapitän seiner gelben Karte wegen partout nicht ums Endspiel bringen wollte. „Im Mittelfeld nicht unnötig foul“, habe er gespielt, bloß, wenn es in der Abwehr darauf angekommen wäre zuzulangen, „dann hätte ich mich selbstverständlich geopfert.“ Braver Mann!

Nur hatte eben Trainer Bobby Robson Recht und Wasser in den Augen mit der Feststellung, das Match sei „very close“ gewesen. Klinsmann hat offenbar mit den Spiel gegen Holland sein Meisterstück schon abgegeben; Wright war für ihn ein zu knorriges Hindernis. Die anderen taten ihren Part gut, solide, aber auch nicht so berauschend, daß es Verzückung hätte hervorrufen können, wie das Sparbuch Nummer 001 im Zentrum Berlins.

Der deutschen Wertarbeit gegenüber stand der Beweis, daß Englands Fußballer „nicht mehr mittelalterlich und old -fashioned“ (Robson) den Ball zum gegnerischen Tor treiben, sondern wohldurchdacht und, je nach Kontrahent, flexibel zu Werke gehen. Waddle beispielsweise, der läuft, als sei er mit Blasen an den Füßen auf die Welt gekommen, ist ein fast unauffälliger Schlauberger, und hätte er am Ende der ersten Verlängerung nicht flach den Pfosten getroffen, wer weiß? An die gleiche Stelle prallte später der Ball von Buchwald, geradezu symbolisches Zeichen für die Ausgeglichenheit der ganzen Geschichte.

In Neapel nämlich hatten sogar tiefbedrückte Italiener in der allgemeinen Agonie nie vergessen anzufügen, daß mit Argentinien an diesem Abend die bessere Mannschaft letztlich auch mit mehr Glück bedacht war; in Turin indes hätte sich auf eine solche Wertung wohl kaum jemand festgelegt. Brehmes abgefälschten Freistoß über Shilton hinweg hatte Lineker nach Kohlers einziger Unachtsamkeit ausgeglichen - alles pari. Dann lag der „Druck in diesem Mannschaftsspiel plötzlich auf den Einzelnen“ (Robson). Robson beschwor den britischen Sportsgeist. Beide Finalisten das erste Mal überhaupt durch ein Elfmeterschießen ermittelt, da sollte doch die FIFA endlich überlegen, das Spiel so lange fortsetzen zu lassen, „bis irgendeine Seite zusammenbricht.“ Das wäre doch was, wenn bei der nächsten WM in den USA dann noch Bob Dylan in Anlehnung an seinen „Million Dollar Bash“ („The louder they come, the bigger they crack“) die offizielle Hymne komponieren würde: „The fitter they are, the later they crack.“

Deutschland: Illgner - Augenthaler - Kohler, Buchwald Berthold, Häßler (67. Reuter), Matthäus, Thon, Brehme Völler (38. Riedle), Klinsmann

England: Shilton - Wright - Parker, Walker , Butcher (71. Steven), Pearce - Waddle, Platt, Gascoigne Lineker'Beardsley

Zuschauer: 62.628

Tore: 1:0 Brehme (60.), 1:1 Lineker (81.)

Tore im Elfmeterschießen: 0:1 Lineker, 1:1 Brehme, 1:2 Beardsley, 2:2 Matthäus, 2:3 Platt, 3:3 Riedle, Pearce (gehalten), 4:3 Thon, Waddle (verschossen)

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