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Ansteckung im Adlernest

■ Richtungskämpfe in Albaniens Führung

GASTKOMMENTAR

Als alle anderen kommunistischen Regime nach und nach vom Wind der Freiheit umgestürzt wurden, blieb Albanien ein „Adlernest“ des Totalitarismus - trotz einer zögerlichen Entwicklung im Inneren und einer ultravorsichtigen Öffnung nach außen. Die Flucht von etwa 200 Menschen in verschiedene Botschaften in Tirana stellt ein in seinem Ausmaß ungekanntes Ereignis in diesem Land dar. Wird es jetzt zu einer Beschleunigung der Entwicklung kommen oder im Gegenteil zu der Verhärtung eines Regimes, das nach wie vor unerschütterlich den Stalin-Kult zelebriert?

Wahrscheinlich handelt es sich bei der jetzigen Fluchtbewegung um eine abgesprochene Aktion; in jedem Fall stellt sie einen starken Protest dar. Schon zu Jahresbeginn gab es aus mehreren Städten, so in Shkoder, Gerüchte über Unruhen; alle wurden sogleich von der Regierung dementiert. Seither soll es zu anderen Vorfällen gekommen sein - schwer, es genauer zu erfahren. Albanien, das hinter seinen Bergen 46 Jahre lang in der größten Abgeschiedenheit gelebt hat, ist neben Nordkorea einer der verschwiegensten Staaten der Welt.

Dennoch hat sich das „Land der Adler“ - so lautet sein Name auf Albanisch - vor zwei Jahren nach Außen insofern geöffnet, als die Staatsmacht ihren Untertanen erlaubte, ausländische Fernsehsender zu empfangen. Eine Bresche im System. So konnten sich die Albaner eine Vorstellung von den Revolutionen machen, die Osteuropa erschütterten. Wie dabei nicht auch ähnliche Gelüste bekommen?

Aber auch die kommunistischen Machthaber haben in letzter Zeit Anzeichen einer Infragestellung erkennen lassen. Die Nummer Eins in Albanien, Ramiz Alia, hat sich einen Fußbreit von der Linie seines illustren Vorgängers Enver Hodscha entfernt, dem Staatsgründer, der 1985 gestorben ist. Auf der letzten großen Parteiversammlung im Herbst 1989, hat sich Alia für diverse Reformen ausgesprochen - bescheidene Reformen. Aber er hat in diesem Jahr mit ihrer Durchführung begonnen, vor allem auf dem Wirtschaftsgebiet. Andere ermutigende Zeichen: die Ankündigung, daß Religionen nicht mehr unterdrückt und ein Justizministerium sowie eine theoretisch unabhängige Anwaltschaft eingerichtet werden sollten.

Auch in der Außenpolitik ließen sich Umrisse einer Öffnung erkennen. So hat Albanien erfolgreich beantragt, bei den Arbeiten der KSZE vertreten zu sein. Anscheinend haben diese wenigen Schritte die Spannung im Inneren der Macht verschärft, also zwischen den „Reformern“ um Alia und den Anhängern eines rigiden Marxismus-Leninismus um die Witwe Enver Hodschas. Nur: Wer wird das Rennen machen? Über die Demokratisierung in Osteuropa darf die Niederschlagung des „Pekinger Frühlings“, dürfen die Rückschläge in Bukarest nicht vergessen werden. Leitartikel aus 'Le Monde‘ vom 5. Juli 1990

Übersetzung: sm

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