: Lernen ist allemal sinnvoll
■ Pentacon Dresden stellt Weichen für neue deutsche Kamera und 2.000 UmschülerInnen / Praktika-Fortbildungswerk soll auch der Stadt helfen - die weiß aber nicht, was sie braucht / Interesse an Umschulung schlagartig gestiegen
7DDR
FREITAG, 6.7.90dietageszeitung
Aus Dresden Detlef Krell
„Wir stehen hinter dem Konzept der Betriebsleitung und der Unternehmensberater für Pentacon. Es gibt realisierbare Schritte vor, bis 1991 die Rentabilität des Unternehmens zu sichern und wenigstens für einen Teil der Beschäftigten die Arbeitsplätze zu erhalten“, erklärt Betriebsratsvorsitzender Rainer Pfaff.
Der Volkseigene Betrieb Pentacon mit seinen 5.800 Beschäftigten gehört zu den großen Unbekannten auf dem Dresdner Arbeitsmarkt. Bis 1984 als Kombinat, dann als Betrieb im Multi Carl-Zeiss-Jena war er als Kameraproduzent auf dem europäischen Markt zu Hause. Die BX 20 kostete im einheimischen Fotogeschäft 1.500 Mark, jenseits der Mauer 300 DM. Mit dem Fall der Mauer war den KollegInnen klar, daß sich ihr unrentabler, aus 100 Teilen zusammengestückelter Betrieb so nicht halten kann. Überlebenstraining war angesagt.
Inzwischen wissen die KollegInnen, daß eine künftige Pentacon GmbH die Kameraproduktion fortführen wird. Nicht mehr der befohlene Japan-Verschnitt, sondern deutsche Wertarbeit soll aus dem traditionsreichen Betrieb auf den Markt gelangen. Verhandlungsrunden mit mehreren japanischen Firmen waren gescheitert. Mit der Voest Alpine Industrieanlagenbau, Linz, und anderen Unternehmen fand Pentacon schließlich europäische Partner.
Aber in der neuen GmbH werden nur etwa 1.000 KollegInnen einen Arbeitsplatz finden. Noch unsicherer ist die Zukunft der verbleibenden, immerhin 4.800 Beschäftigten. Weitere Pentacon-Betriebsteile und Einrichtungen wie der Fuhrpark und die Ferienheime wollen GmbHs bilden. Damit könnten Arbeitsplätze für 2.700 KollegInnnen erhalten werden. Bleiben immer noch rund 2.000 KollegInnen, deren nächster Weg jetzt zum Arbeitsamt führt.
Spätestens hier wäre mit dem Betriebsrat kein Konsens mehr möglich. Er fordert einen Sozialplan auf der Grundlage des Arbeitsförderungsgesetzes und des Kündigungsschutzgesetzes, der den Interessen der Beschäftigten in allen Betriebsteilen Rechnung trägt. Betriebsdirektor Schulzki spricht von Freisetzungen im Laufe des zweiten Halbjahres 1990, von schrittweiser Einstellung der Produktion und der Reduzierung des Forschungs- /Entwicklungs- und Verwaltungsaufwandes, und er erklärt: „Unser Konzept beinhaltet, die Leute nicht zu entlassen, sondern ausgehend vom in der Regierung diskutierten Grundig-Modell im Rahmen des Betriebes umzuschulen.“ Die Betroffenen erhalten nach dem Grundig -Modell ihre finanzielle Unterstützung als Arbeitslose, bleiben aber Betriebsangehörige, verlieren demnach auch nicht ihre sozialen Beziehungen zu ihrem Arbeitskollektiv und sehen sich durch die auf betriebliche Belange orientierte Umschulung nicht nur vertröstet.
Bei Pentacon arbeitet eine seit Jahren gewachsene Stammbelegschaft. Nicht selten schließt sie ganze Familien ein. Im kleineren Teil der Belegschaft ist dagegen die Fluktuation sehr hoch. Eine Tendenz, die zur Überalterung der Belegschaft führt und die sozialen Konflikte bei einer Massenentlassung noch verschärfen würde. Wie aus Leitungskreisen des Betriebes zum Umschulungskonzept verlautet, gehe es darum, jedem Beschäftigten durch Qualifizierung größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen. In diesen Überlegungen spielt auch Kurzarbeit eine Rolle. Bevor 500 KollegInnen entlassen werden, sollten lieber 1.000 halbtags arbeiten und die verbleibende Arbeitszeit die Schulbank drücken. Der Betriebsrat will verhindern, daß mit der unvermeidlichen Spaltung des Betriebes auch die Verbundenheit der KollegInnen in die Brüche geht. Deshalb scheut er sich auch nicht, Illusionen zu zerstören. „Unsere Leute sind gewöhnt, daß man ihnen sagt, was nächstes Jahr wird. Der Betriebsrat will helfen, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken und Neues zu wagen.“
Für die mehr als 200 VietnamesInnen im Pentacon sind die Aussichten nicht besser, aber auch nicht schlechter als für die deutschen KollegInnen. So bestätigen es jedenfals die vietnamesische und die deutsche Gruppenleitung. Das „bisher gute Verhältnis in den Kollektiven“ soll nicht unter den neuen Bedingungen leiden. Für alle VietnamesInnen, die in Deutschland bleiben und ein Gewerbe eröffnen wollen, steht die Frage nach einer Wohnung an erster Stelle. Denn: „ohne eigenen Wohnsitz“ keine Gewerbegenehmigung. Um die Chancen auch für die VietnamesInnen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, beginnt deren Umschulungsprogramm mit erweitertem Deutsch -Unterricht.
So sinnvoll jede Umschulung sein mag, für den Betrieb und für die UmschülerInnen braucht sie irgendwann einmal ein Ziel. Aufs Blaue hin wird niemand die Programme finanzieren. Pentacon und Arbeitsamt Dresden erarbeiteten für die Umschulung der 2.000 oder mehr KollegInnen ein Projekt unter dem Namen „Praktika Fortbildungswerk“. Unterstützung erhalten sie von der Fachschule für Betriebswirtschaft und Datenverarbeitung Düsseldorf und weiteren bundesdeutschen Schulen. Alle Partner schließen sich in einem Verbund zusammen. Die Umschulung beginnt mit einem vier- bis sechswöchigen Bewerbertraining, darin sollen die UmschülerInnen erkennen, für welchen neuen Beruf sie geeignet sind. Im Arbeitsamt liegt ein Umschulungskatalog bereit, „der uns in die Lage versetzt, für 5.000 Leute sofort die Umschulung zu sichern“, wie Herr Kretzschmar, Abteilungsleiter Berufsbilung und Ausbildungsvermittlung im Arbeitsamt, erläutert. Wieviel Arbeitskräfte mit welcher Ausbildung morgen auf dem Arbeitsamt gebraucht werden, darüber sei heute nur herzlich wenig bekannt. Lediglich die allgemeine Ortskrankenkasse, die bisherige Staatliche Versicherung, habe mitgeteilt, daß sie demnächst 1.000 MitarbeiterInnen im Bezirk, 400 in der Stadt, einstellen werden. Die mittelständische Industrie halte sich bedeckt, nur das Bauwesen gebe einige Lichtblicke.
Das Interesse an Umschulung sei in den vergangenen Wochen schlagartig gestiegen, bestätigt das Arbeitsamt. Noch im Mai ließen sich viele DresdnerInnen nur unverbindlich beraten. Ganze 80 Verträge wurden abgeschlossen, und das waren meist lukrative Lehrgänge in der BRD für Spezialisten. Doch seit Juni finden zunehmend die weniger aufregenden, „hausbackenen“ Umschulungen ihre BewerberInnen. Öfter gehen die MitarbeiterInnen in die Betriebe, um, wie mit Pentacon, gemeinsam ganze Programme für die Belegschaft zu entwerfen. Einer der wichtigsten Arbeitsgeber der Zukunft müßte die Kommune sein. Davon geht Pentacon aus und will bei der Umschulung besonders auf kommunale Dienste setzen. Vom Dezernat für Wirtschaftsförderung der Stadtregierung kam bisher keine Bestätigung dieses Gedankens. Im Bereich Analyse des Arbeitsamtes wird derzeit mit der Stiftung Berufliche Bildung, Hamburg, eine Beschäftigungs- und Weiterbildungs-Bedarfsanalyse erarbeitet. Diese Analyse beginnt mit dem Verkehrswesen. Ein Bereich, der Arbeitsplätze schaffen könnte, die entsprechenden politischen Entscheidungen im Rathaus vorausgesetzt. Wenn die 1,4 Milliarden DM Investitionen, die Dresdens OB Wagner im Wahlkampf versprochen hat, tatsächlich kommen sollten, müßte schon entschieden werden, ob Dresden künftig den öffentlichen Nahverkehr fördern will oder weiter den privaten Pkw-Verkehr. Ende Mai zählte das Dresdner Arbeitsamt 2.441 Arbeitslose. Neben der Unbekannten Pentacon steht der Industriezweig Elektrotechnik/Elektronik, der 16 Prozent des städtischen Arbeitsvermögens bindet, in der Rechnung für den Arbeitsmarkt der nächsten Wochen. Diese Entwicklung relativiert die Chancen für das Pentacon-Modell; die Stadtregierung ist nun am Zuge, aus ihren Wahlversprechen spürbare Politik zu machen.
Fotoladen in Dresden
Foto: H. Dieter Zinn
KIRCHE
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen