: Coming-out in der UdSSR
■ Internationale Lesben- und Schwulenkonferenz in Stockholm / Erstmals TeilnehmerInnen aus der Sowjetunion und osteuropäischen Ländern
Aus Stockholm Reinhard Wolff
Sie waren so etwas wie die VorzeigeteilnehmerInnen der schwedischen Medien: Anna aus der Sowjetunion und Simon aus Südafrika. Simon, tatsächlich der einzige afrikanische Schwule auf dem ganzen Kongreß; Anna, zwar nicht die einzige - es waren etwa zehn Lesben und Schwule aus der Sowjetunion angereist -, aber doch die mit der geringsten Furcht vor der Öffentlichkeit. Eine begründete Furcht, denn nach wie vor gilt für Schwule in der UdSSR der Sodomie-Paragraph mit einer Strafdrohung von fünf Jahren Zwangsarbeit. „Lesbische Frauen fallen nicht unter diese Bestimmung“, berichtet Anna, „lesbische Frauen haben für den Staat überhaupt nicht existiert. Sie fielen unter das totale Tabu.“
Der Kongreß der „International Lesbian and Gay Association“ (ILGA) geht nach fünftägiger Dauer heute in Stockholm zu Ende. Etwa 350 TeilnehmerInnen aus knapp 40 Ländern - vor allem aus Europa und den USA - diskutierten eine Woche lang. Es ging um die unterschiedliche rechtliche und tatsächliche Situation von Lesben und Schwulen in den einzelnen westlichen Industrieländern, aber auch den osteuropäischen Ländern und Iran.
Die Debatte über die Aussichten eines vereinigten Deutschlands mit der zu befürchtenden rechtlichen und politischen Schlechterstellung für Lesben und Schwulen aus der DDR war durchaus symtomatisch für die Diskussion der gesamteuropäischen Perspektiven. Denn es sind ja bei weitem nicht nur die Sowjetunion und Rumänien, in denen Homosexualität kriminalisiert ist, sondern auch Irland und Zypern. Wie wird sich also für ein vereintes Europa die „Anpassung“ vollziehen? In Stockholm wurde eine rechtliche Angleichung an die liberalen Länder wie die Niederlande und Dänemark gefordert und eine Anpassung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner abgelehnt. Die Berichte, die verschiedene TeilnehmerInnen über gegen Lesben und Schwule gerichtete Aktionen von neofaschistischen Gruppen in ihren Ländern gaben, machten grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten deutlich und führten zu dem eindringlichen Appell, hier mitzuhelfen, den Anfängen zu wehren. „Bis zur Novemberrevolution gab es uns überhaupt nicht“, erzählt Karla aus der CSFR, „weibliche Homosexualität hatte es eben nicht zu geben. Auch jetzt trauen sich viele Frauen immer noch nicht, aus der 'Unsichtbarkeit‘ hervorzutreten. Die Angst und soziale Isolation, das Mißtrauen dauert an. Wenn ich die Berichte aus der DDR höre, wo Faschisten Homo-Cafes überfallen, habe ich auch nicht viel Hoffnung, daß sich das bald ändert.“
Die ILGA-Vorsitzende Lisa Power gibt ähnlichen Befürchtungen Ausdruck: „In diesem Jahr sind viele Mauern gefallen, hat es viele Veränderungen gegeben. Aber die Folge ist auch eine große Unsicherheit, vielleicht neue Mauern. Statt Unsichtbarkeit jetzt Diskriminierung.“ Und: „Wir müssen die Politiker überall stellen, zu Klartext und zu klaren Taten zwingen.“ Anna aus Moskau, die sich in Stockholm vom Fernsehen interviewen läßt, ist offiziell auf einer Ferienreise. Die 30jährige lebt zu Hause bei ihren Eltern, weder diese noch ihre ArbeitskollegInnen wissen, daß sie lesbisch ist. „Ich sage ihnen, ich bin aktive Feministin.“ Erst im vergangenen Jahr hat sie sich einer Homosexuellen-Gruppe angeschlossen: 30 Schwulen und Lesben, die im Untergrund arbeiten. Anna ist Mitherausgeberin Zeitung für Lesben in Moskau. „Die Perestroika hat für uns bis jetzt noch überhaupt nichts geändert. Vielleicht verfolgt man die Homosexuellen nicht mehr ganz so unerbittlich wie früher. Aber Stalins Gesetzte von 1936 gelten immer noch.“
Für den ebenfalls 30jährigen Simon wurde die Flagge der ANC, nicht die Südafrikas aufgezogen. Der Student ist im ANC aktiv. „Da gibt es eine relativ liberale Einstellung zur Homosexualität. Es ist aber alles andere als einfach, offen als Schwuler aufzutreten. Gerade die schwarze Gesellschaft hat sehr viele Vorurteile gegen uns. Man betrachtet uns weiterhin als Opfer 'westlichen‘ Lebensstils.“
Das Spektrum, das sich in Stockholm präsentiert, ist weit. Von Dänemark, dem ersten Land, wo eine registrierte Partnerschaft von Homosexuellen möglich ist, bis zum Iran, wo Lesben und Schwule von der Todesstrafe bedroht sind. In vielen afrikanischen Ländern gibt es eine Doppelmoral, berichtet Simon: „Diskrete homosexuelle Abenteuer sind gesellschaftlich geduldet. Solange es sich 'nur‘ um Sex handelt, nicht um Liebe. Liebe darf's nicht werden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen