: Karl Marx be with you
■ Roskilde-Festival 1990
Dänemark ist immer das netteste Land. In Marielist am Kiosk trifft mich das schönste breite blonde Sommersprossenlächeln. Auf den neuen Fünf-Kronen-Stücken sind kleine Herzchen. Am Meer sitzen junge Menschen bis in den Morgen; alte Menschen steigen früh ins kalte Wasser. „Onkel John“ verleiht Boote.
Einer will bleiben, die anderen wollen weiterfahren; einer will Memories of a free festival hören, die anderen sehnen sich nach Daliah Lavi. Vor dem Festivalgelände steht die „Politi“ mit kunstvoll aufgemalten Rosen auf den Wangen. 20 Jahre Roskilde. Siebenhundert umsonst arbeitende Helferlein bekommen zehn Bier am Wochenende und kein Geld. Überschüsse sind für verschiedene gute Sachen gedacht. Roskilde ist Mythos. Wie Woodstock, Vlotho oder Scheeßel. Es ist heiß, dies Jahr, an vier Tagen, doch niemand zieht sich aus.
Manchmal lichtet sich der Nebel ein wenig und es tauchen Farben auf aus dem alles verwischenden Grau aus Kronkorken, Plastikbechern, weißen Körpern, flachsblondem Haar, aus dem penetranten Geruch überall aus Pisse, Bier, Schweiß und Sand, auf dem Weg zwischen grünem Zelt, blauem Zelt, orangener Freilichtbühne und zurück.
Ein schmaler Lenny Kravitz geht vorbei. Mit grellroter Federboa, mit ultraspitzen roten Wildlederschuhen und Nickelbrille. Nervös tänzeln er und seine Band hinter dem vorgezogenen Vorhang auf der Bühne kurz vor dem Konzert wie eine Horde Pennäler. Scherzend werfen sie sich beruhigendes Lächeln zu. Der dicke „De la Soul„-Hip-Hopper Devise: Wer redet, ist nicht tot - hatte ihn mit einem „We love Lenny Kravitz“ begrüßt. „I really mean it“, hatte der vor der Presse gesagt und gemeint: Love, Peace, Understanding. Weil der Früchtefanatiker versprochen hatte, daß das eine „good experience“ sei, „for me, for you“, halten sich alle an den emporgestreckten Händen und lassen nicht mehr los. Auch als er längst schon gegangen ist. Singen anoch ein paar Stunden Let love rule. Wie schön, die Hand der Schönen zu streicheln. Dann kam ihr Typ. Ekelhaft! Wütend gehe ich ins Erotikzelt, bunte Präser aufblasen. Da fällt mir ein, daß S'Express Blow me another Lollypop singen, während die hart depressiven, also die besten Biker von „Leather Nun“ noch Suck my lollypop all night long von irgend jemandem verlangen. „How comes?“ (dänischer Popjournalist). Ein letztes Mal schauen im blauen Zelt, vor zehntausend Zuschauern und den schwedischen Bikerrockern, an gefährdeten Einmaligkeiten männlichen Geschlechtslebens der 80er Jahre vorbei ('The hustler‘). Die „fistfucking Frida“ von Abba tauschten Leather Nun gegen Michael Jackson aus. Zum monotonen Off-Beat von Fistfucker schieben alle grollend die Fäuste in die Luft. Gib's ihm! Hau den Lukas: „Dagens Kraftkarl: Rolf.“
Irgendwo steht ein blaues Zelt für SM-Freunde. Unter den Fotos stehen Erklärungen. Die meinen: Alles normal prima. An einem Stand vor dem Eingang werden Peitschen, Handschellen, Fesseln und was sonst noch das wunde Herz begehrt in Handarbeit hergestellt und verkauft. Souverän lungern ein paar Lederfrauen herum und ein paar fette Ledermänner mit Peitschen, die irgendwie lächerlich aus ihren Gummireithosen herausragen. Daneben spielen hundert Leute vier Tage lang Blitzschach.
Am Wochenende sind im Tagesdurchschnitt 60.000 Zuschauer da. Wenn jeder auch nur drei Liter Bier am Tag trinkt (was für mich eine Alkoholvergiftung bedeuten würde d.S.), sind das in vier Tagen ungefähr 800.000 Liter Bierpisse. Die wird an den Zäunen von Männern abgeschlagen. Frauen hocken sich nur vereinzelt hin. Ist auch schwierig, weil der Boden durchweicht ist von der Männerpisse. Jeden Morgen durchkämmen Kloakenlaster das Festivalgelände. Die Besucher bilden einen repräsentativen Querschnitt zwischen 14 und 40. Viele Frauen haben ihre Kids dabei. (Und den Alten zu Hause gelassen? d.S.) Arme Kids. Junge Angestellte, ein paar Lederjacken, viele Hippies, kaum Schwarze. Die meisten kommen in großen Gruppen. Mit Fahnen, damit sie ihre Gruppe nicht verlieren. Sowjetische Fahnen, Deutschlandfahnen mit Aufklebern aus Kiel und Flensburg, Fahnen von Tankstellen oder Eiscremefirmen. Geklaut? In einem Zelt am Rande kann man sich selber welche malen. Es gibt keine Anarchofahnen mehr. Dafür Gitarren, „de la Souls“, Micky Mäuse, Jamaica, Frauenkampf, St. Pauli, zwei Totenköpfe, und in der Nacht rennt die Männergruppe mit aufgespießter Sexpuppe über den Platz.
Irgendwann beginnt man dies Gruppen- und Fahnengewese zu hassen. Irgendwann singt Bob Dylan mit weißer Ballonmütze und alle stehen da, weil sie denken, irgendwann muß man ihn ja gesehen haben, warum nicht jetzt, und alle wünschen sich die Evergreens aus den 60er Jahren, die sie irgendwann in den 70er oder 80er Jahren gehört haben. Die kriegen sie auch: Zur Beruhigung, damit sie sich nicht totquetschen. Schön war's trotzdem.
Robert Smith und „The Cure“ und Little Feat und Faith No More und die Dänenkultband „DAD“, Lux Interior von den Cramps - auf der Bühne der Ledertangamaniac, zuhaus in Pantoffeln -, sagen kurz „hallo“ und sind schon wieder vergessen, wie die pummlig an die Bühne gedrängten Teeniemädchen. Der Sänger von „24-7 Spyz“ fliegt knapp an meinem Schädel vorbei beim Sprung über den Fotografengraben ins Publikum. Beim Interview war er noch still und ruhig gewesen wie sein Kollege, der so großartig der Klassifizierung seiner Band als „political band“ widersprochen hatte: „He's the political band“, hatte er gesagt, „and I'm from the school of funk“. Und da 24-7 Spyz vier Bands in einer sind, sich Reggae, Speedmetal, Funk, Rap mehr addieren als vermischen, „damit sich keiner aus der Band langweilt“ („Politicalband“, Rick Skatore) werden sie in zehn Jahren als eine der besten Bands aus den 90ern gelten. Die vier Maniacs aus der South-Bronx haben den Schwarzen endgültig den Hard-Core zurückgegeben. Ihre Politik haben sie in Musik getan, „so you can jumping and moving and if you like it, you will understand, what we're saying“. Der Körper wird zum politischen Gedächtnis.
24-7 Spyz waren die beste Band. Neben „Galaxie 500“, die spaciges Hippiefeeling in die Neunziger transponierten, neben „The Eat“, die auf der Folkbühne ein großartiges „Summer in the city„-Cover brachten und auf einer anderen Bühne mehr die wilden Jungs raushängen ließen, neben „Green on Red“, die irgendwann ein Grateful Dead Revival erahnen lassen, neben den englischen „Mekons“, der einzigen unstudentischen freudomarxistischen Speedfolkband auf der Welt, die „Dora“ von Freuds Couch auf die Bühne holten, fast ein Jahr nicht mehr auftreten konnten, weil ihre Company es so wollte, die nun Projekte in London mit Hunter S. Thompson planen und deren Sänger John Minur Beckenbauer „really cool“ findet und sich die Mauer zurückwünscht (und wer tut das nicht?! d.S.) („but it's selfish“) - wegen dem schönen Kreuzberg - und sich mit einem „Karl Marx be with you“ verabschiedet und sehr, sehr traurig sein wird, daß die Engländer nun draußen sind aus der WM.
Sinead O'Connor fiel aus. Sie wurde durch Bryan Adams ersetzt. Toller Tausch. Irgendwo fand sich ein hektrografiertes Blatt mit dem Attest ihres Arztes. „The patient has an Acute viral upper Respiratory Tract Infection and Acute Sinusitis. She will be medically unfit to perform or sing for three days.“ Vielleicht auch besser so. So können wir wieder an die Wahrhaftigkeit ihrer Videotränen glauben.
Alle trinken Bier, Apfelkorn oder Whiskey. Kiffen ist ein Drink unter anderen. Sonntag morgen um elf, während drei Niederländer Two Niggers and a Honky, den besten Heavy -Metal-Rap-Morgenblues spielen, raucht ein kleines nordisch gesundblaß aussehendes Teeniemädchen, freundlich bis über beide Ohren grinsend, mit ihren Freundinnen eine Tüte nach der anderen. Dann greift sie in ihren Rucksack und nimmt einen ordentlichen Schluck Glenlivet Wisky. Wundervoll! Doch immer mehr müde Menschen liegen in fötalen Stellungen in heißer Dänemark-Sonne auf dem Platz herum, weil sie den Weg nicht nach Hause finden.
Der Nebel lichtet sich nur manchmal und auch die Fähre nach Warnemünde schaukelt ungesund ins DM-vereinigte Deutschzeug. Die Farben werden weniger. Ich werde schlafen müssen. „Schlafen kannst du, wenn du tot bist.“
Detlef Kuhlbrodt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen