: Identitätslos?
■ betr.: "Dem alten SED-Denken verhaftet", taz vom 3.7.90
betr.: „Dem alten SED-Denken verhaftet“, taz vom 3.7.90
Irgendwie hat Anna Jonas recht: Nicht nur Wolfgang Kil hat offenbar nicht begriffen, daß er eine Art neuer unverbesserlicher alter Nazi ist, sondern überhaupt haben wohl die Ost-Linken nie begriffen, daß sie für die West -„Linken“ ewig gestrige Stamokap-Idioten sind, unfähig, den sozial abgefederten modernen Kapitalismus nicht für Imperialismus zu halten.
Nachdem nun alles klar ist, kann die taz ja in aller Ruhe über etliche Seiten ihr Befremden darüber ausdrücken, daß die Ossis zu blöd sind, nun endlich Persil und Bounty zu kaufen, wo sie doch 40 Jahre auf nichts anderes gewartet hatten. Dafür passen der Streik bei NARVA und die Aktion der immerhin privaten Kohlenhändler mühelos auf ein paar Quadratzentimeter. Das ist ja aber auch wieder echter Stamokap-Blödsinn.
Nun ja, da die Ost-tazler so elend als Abonnenten-Schlepper mißbraucht worden sind, bin ich bereit mein von jetzt an eingespartes Abonnementsgeld Kuttner, Meier und ihren Leuten als Überbrückungsgeld zu stiften - wenn sie denn die Konsequenzen ziehen sollten, wie ich.
Nicoletta Freitag, Berlin 1055
(...) Ach, Frau Jonas, ich fürchte, an Ihnen haber Herr Heck und Herr Lüg und all die anderen netten Damen und Herren ganze Arbeit verrichtet. Seien Sie doch wenigstens so freundlich, das Etikett „links“ von Ihrem Revers zu entfernen. Etikettenschwindel ist nämlich in der Markwirtschaft verboten!
Im übrigen seien Sie unbesorgt: Das Ausmerzen von allem, was eine eigene kulturelle Identität der DDR-Bevölkerung vermitteln könnte, wird bereits von einschlägigen Fachleuten besorgt. Deresgleichen haben schon viel ältere und zählebigere Kulturen vom Erdboden getilgt. Und was die Kil & Co. betrifft, die „nicht gesprächsfähig“ sind, sondern „dumm, verstockt oder SEDenker“, wie Sie sich auszudrücken belieben, so wird sich bestimmt ein Weg finden, denen das Maul zu stopfen. Hat man erst ihre ihnen verbliebenen Medien in den freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Besitz von Bertelsmann und Springer überführt, besorgen den Rest die Mitarbeiter unserer ach so „unperfektionierten“ Massenmedien. Die haben nämlich ihre journalistischen Grundregeln schon mit der Muttermilch eingesogen. Und deren erste und einzige lautet immer noch: Wes Brot ich eß, des Lied ich sing.
Edmund Weber, Berlin 61
(...) Ich weiß ja nicht, wo und wie Frau Jonas lebt, wessen geistiges Kind sie ist; aus ihrem Geschriebenen wird aber zumindestens eines deutlich: Sie hat die Ereignisse seit dem vergangenen Herbst nicht recht begriffen. (...)
Einig sind wir uns sicherlich darin, daß wir eine andere Gesellschaft als die der SED in der DDR haben wollten; uneinig sind wir uns aber wohl über den Charakter der neuen DDR-Gesllschaft, sprich: der alten BRD-Gesellschaft. Natürlich wird überall von der pluralistischen Gesellschaft der BRD getönt, natürlich wollen die hiesigen Regierenden genau dieselben Verhältnisse, aber wer kann denn nun tatsächlich mit reinem Gewissen von einer „pluralistischen Demokratie“ reden, ohne Kohls-Hintermänner-Anschlußpolitik als Annektion und damit ademokratisch und völkerrechtswidrig zu sehen oder ohne das amoralische Verhalten der gesamten deutschen Gesellschaft angesichts ihrer fortwährenden Mitschuld an den globalen Problemen dieser Welt wenigstens nur zu erwähnen?
Sicherlich: Parolen, große Worte, doch was soll man angesichts diametraler Parolen heute noch anderes bringen als Parolen?
Und noch schnell etwas anderes: Will Frau Jonas das gesamte DDR-Volk, also alle außer den paar tatsächlichen ehemaligen Oppositionellen, verbannen? Nein, natürlich nicht! Die Blockflöten haben ja mit Hilfe des Bonner Kammerorchesters schnell die neuen Partituren vorgelegt bekommen und auch gelernt... Die dürfen mit der Unterstützung von Frau Jonas weitermachen. Aber bitte, ein bißchen Hetzjagd gegen die SED -PDS. Daß es bis zum November zwischen der ersten Geige und den Flöten nur dem Namen nach einen Unterschied in der Musizierweise gab, hat Frau Jonas vergessen oder nie bemerkt.
Anna Jonas will, so sagt sie, eine gemeinsame, bessere Gesellschaft. Aber bitte Leute, bringt nichts mit, laßt unsere Wessi-Schwestern- und -Brüder machen, laßt Eure DDR -Identität zu Hause, tilgt sie, denn sie ist - wenn überhaupt - nichts anderes als Nationalismus! Nach Frau Jonas gibt es nichts, was man als DDR-Identität bezeichnen könnte. Streift alles ab, was uns irgendwie verband, und werft Euch ohne alles Jonas & Co. unter, laßt Euch vereinnahmen, die wissen ja, wie es langgeht, wie man zum Beispiel eine Regierung verjagt. Vor allem Ihr Leute vom Herbst und vom Vorherbst, vergeßt alles, denkt nicht mehr an die Solidarität, jetzt ist erst einmal Individualismus angesagt, unterdrückt Eure Leidenschaft zur Opposition, jetzt geht es erst einmal ans Vergnügen, ans Vollstopfen mit den Hams und Cokes, damit wir dann endlich satt mit Frau Jonas die „gemeinsame, bessere Gesellschaft“ erstehen lassen können. Und vergeßt vor allem das Wichtigste: Die Chance vom Herbst, die in den Köpfen eine wirkliche ökologische-soziale Gesellschaft herumgeistern ließ. Wir, die wir alle ohne jegliche Identität in der Weltgeschichte herumrennen müssen, hatten nie auch nur das Recht, an etwas eigenes, etwas gemeinsames, etwas besseres auch nur zu denken! Jetzt mit der DM in der Hand, Herrn Kohl & Co. vor uns und Frau Jonas & Co. hinter uns, wird schon alles gut, andere sorgen für uns. Nur vergessen müssen wir: Uns, die Chancen und Hoffnungen, die Deutsche Bank und den Regenwald, Mercedes und Südafrika und all die anderen Kleinigkeiten. Aber vergeßt auch in der endlich erreichten „pluralistischen Gesellschaft“ die PDS-Schweine nicht! Wissen heißt, wissen wo der Feind steht...
Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin 1058
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