: „Rapid fallen die Kuppeln“
■ Max Raphaels Betrachtungen zur französischen Gotik
Von Wilhelm Schlink
Der Titel läßt auf expressionistische Lyrik schließen. Weit gefehlt! Eine mit dem Anspruch von treffsicherer Empirie und höchster Exaktheit auftretende Kunstwissenschaft beschreibt solchermaßen das optische Phänomen der perspektivischen Verkürzung.
Es geht um Max Raphael, den Schriftsteller, Philosophen und Kunstkritiker. Seine Dissertation Von Monet zu Picasso hatte der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin 1912 als wenig zünftig abgewiesen. Außerhalb der Zunft zu stehen, blieb Max Raphael ein Stachel, so stolz er dieser Zunft auch gegenübertrat: etwa mit seinen Vorlesungen über marxistische Kunstwissenschaft vor Arbeitern an der Berliner Volkshochschule oder mit seinen noch heute lesenswerten Essays über Lurcat, Le Corbusier und das Moskauer Sowjetpalais - Essays, an denen der Leser Geist und Sinne, Sprache und Urteil wetzen kann. Seit 1932 war Raphael, der jüdische Emigrant in Paris, zu einem abwartenden Stillstand gezwungen; das führte zu einer eigentümlichen Verbindung von hochfliegenden Plänen und eher begrenzten Fingerübungen. Exzerpte aus der Bibliotheque Nationale galten der Kulturgeschichte sowie der Wirtschafts- und Sozialstruktur Frankreichs; Besuche des Louvre und Reisen sollten Theorie und Empirie zu einer neuen Kunstwissenschaft verknüpfen.
Eine Reise nach Südwestfrankreich gab Raphael Material genug, um über den romanischen und gotischen Kirchenbau Abschließendes niederzuschreiben. Man mache sich klar: weder die Normandie noch Burgund, weder die Champange noch die Provence waren ihm bekannt. Einfühlung, genaue Deskription, die Vorgaben einer materialistischen Theorie, Wagemut in allen Fragen der typengeschichtlichen Bestimmung und der kunsthistorischen Evolution mußten die mangelhafte Materialkenntnis ersetzen. Der Autor war weder in der Architekturterminologie firm noch hatte er all die scholastischen Autoren, deren er sich zum Analogieschluß bediente, gelesen (er informierte sich überwiegend aus Etienne Gilson, La philosophie au Moyen-Age, Paris 1930). Kann aus solchen Voraussetzungen eine Kunstwissenschaft entstehen, die an Prägnanz, an Weitblick und an logischem Schluß alles bis dahin Erarbeitete übertreffen würde?
Raphael kennt weder die Architektur noch die Philosophie der Bistümer und Klöster
Herausgeber eines Nachlasses können Leichenfledderer oder Hagiographen sein. Die Herausgeber von Raphaels Zur Aesthetik der romanischen Kirchen in Frankreich sind beides. In wahrhaft vernageltem Hermetismus erklären sie die unveröffentlicht gebliebene Schrift zu einem Hauptwerk Raphaels und geben sie mit all ihren Unzulänglichkeiten nahezu unkommentiert heraus, vermehrt um einige Studien zu romanischen Portalen, die außer jeder Diskussion stehen. Um diese Aufsätze als etwas Progressives oder gar für etwas Einzigartiges zu nehmen, muß man schon ein ausgekochter Raphael-Fan sein. Wer Augen im Kopf hat und das Mittelalter etwas kennt, wird Mühe haben, dem Diskurs des Autors auch nur ein Stück weit zu folgen.
Das Handicap der Studie Zur Aesthetik der romanischen Kirchen liegt darin, daß der Autor mehr postuliert, als er sieht. Raphael sieht symbolische Formen, wo andere nur Konstruktion sehen, und er sieht weltanschaulich vorgeprägte Entscheidungen für bestimmte Konstruktionen, wo andere bloße Steine sehen. Gleich zu Anfang wird die Mauer aus Bruchsteinen in dickem Mörtelbett als „Unordnung“ apostrophiert, die Mauer aus Quaderwerk jedoch als „Ordnung„; das erste nennt Raphael - wider alle terminologischen Usancen - „die Wand“, und nur das zweite gilt ihm als Mauer. Der Ordnungszwang wird zum Sehzwang, und das auf die Romanik gezwungene Sehen soll einer beglückenden Ordnung teilhaftig werden. Aus der erzwungenen Ordnung wird dann eine „Solidarität“ aller Bauglieder erzwungen. Fehlt ein „übergeordnetes Ganzes“ (etwa eine Tonnenwölbung), liegt in der Folge kreuzgewölbter Joche eine „Additon des Gleichen zum Ganzen“ vor, dann ist dies immerhin „eine Tendenz zur Demokratie“. In der Wechselzone vom Quadrat des Kuppeljochs zur Kuppel über dem Kreis „koordinieren sich die zu Gott strebenden Energien des Menschen und die sich vermenschlichenden Energien Gottes, ohne daß durch diese schwebende Zwischenschicht der Vermittlung die prinzipielle Verschiedenheit aufgehoben ist“. Das ist gut hegelsch gedacht, sogar etwas trivial-hegelsch; aber nichts Neues! so ähnlich dachten in „das bedeutet„-Relationen schon die Kunsthistoriker Carl Schnaase und Hans Sedlmayr. Analogie und Empirie sind leicht zu verwechseln, zumal wenn man so ungeduldig alles in allem sehen und begreifen will. Raphael ist so stark auf die Kategorien von Spannung und Vermittlung, von Entgegensetzung und Versöhnung (letzteres schon ein dubioser Schlüsselbegriff in Von Monet zu Picasso) fixiert, daß selbst das unschuldige Sockelprofil, welches ein Gebäude umzieht, in Raphaels Vorstellung „diese allgemein zugrunde liegende Spannung zwischen Endlichem und Unendlichem konkretisiert“.
Raphaels Anschaulichkeit kommt nicht vom Anschauen, sondern vom Begriff
Max Raphael schreibt über den romanischen Kirchenbau distanziert und im Sinne einer hochgestimmten Doxologie zugleich: distanziert, indem er von den Materialien und von der Konstruktion ausgeht; doxologisch sofern er nicht müde wird, den Endzweck des Kirchenbaus, nämlich die Selbstdarstellung der christlichen Dialektik zwischen Welt und Gott, in immer neuen Wendungen und immer farbigeren Wortkaskaden zu rühmen. Durch die „Lichtkomposition“ im romanischen Kirchenraum wird es erst ermöglicht, „das am Christentum auszudrücken, was an ihm geistig und der Materie entgegengesetzt ist: die Transzendenz von Geist und Materie, den Gegensatz von Endlichkeit und Unendlichkeit etc.“ Oder: vom Kuppelscheitel „gleitet das Auge wieder zurück nach unten und außen, aus einer Einheit (gem.: die Kuppel) in die Mannigfaltigkeit (gem.: die Stützen), aus einer Immaterialität in die Materialität, aus der Ausdehnungslosigkeit in die Ausdehnung“. Die Worte gewinnen bei Raphael ein dualistisches Eigenleben, das an die Architekturerfahrung von Anthroposophen erinnert; aber es ist eine Anschaulichkeit, die der Gedanke aus sich und seiner Theorie entwickelt hat. „Anschauendes Denken“, wie es die Aufklärung als hermeneutisches Verfahren konzipiert und uns zur kontrollierten Nutzung aufgegeben hat, kommt in diesem Milieu nicht zum Zuge, denn das Primat des Gedankens ist nahezu totalitär.
Die Herausgeber formulieren als Quintessenz des Bandes stolz: „Raphael denkt.“ Das erinnert an den fatalen Spruch, der über Raphaels Namensvetter, den Urbinaten um 1500, seit alters im Umlauf war: wäre der göttliche Raphael auch ohne Hände geboren worden, er hätte gleichwohl der größte Maler aller Zeiten sein müssen. Bei aller Hochschätzung des Denkens hätte ich vom Begründer einer empirischen und exakten Kunstwissenschaft gern auch gehört: „Raphael sieht.“
Die Kommentare der Herausgeber gelten nur dem Erzengel, nicht dem verhandelten Stoff. Dem Leser wird daher schwerlich deutlich, wie zeitgebunden Max Raphael argumentiert. Von Raum und Licht, von dem (gegängelten) Betrachterblick und dem rhythmischen Erleben beim Durchschreiten eines Baus, schließlich „vom Wesen der romanischen Mauer“ und von den Analogien zwischen scholastischem Denken und gotischer Architektur haben nahezu alle Kunsthistoriker der zwanziger und dreißiger Jahre gesprochen; ja, man hat sosehr in diesen abstrahierenden Kategorien und Erlebnissen geschwelgt, daß man schlechthin zu blind war, um in den Fenstern der gotischen Kathedralen Gestalten und Szenen zu entdecken; wie Raphael sahen Hans Jantzen und andere in ihnen nur „hauchdünne Wände“ und „farbiges Licht, diagonal geführt“. Auch das hätten die Herausgeber sagen müssen, daß viele der von Max Raphael angesprochenen Fragen und Beobachtungen zur gleichen Zeit oder wenig später tiefer und ergebnisreicher verhandelt worden sind. Ich erinnere nur an Erwin Panofskys - in Deutschland ziemlich unbekannt gebliebenes - Buch Gothic Architecture and Scholasticism (1951; 1967 von Pierre Bourdieu mit einer ausführlichen Einleitung ins Französische übersetzt).
Wer einräumt, daß Raphaels Sätzen „der Verlust des Gegenstandes und der Gültigkeit droht“ (J.K. Eberlein in der Nachbemerkung), sollte uns nicht weismachen, daß mit Zur Aesthetik der romanischen Kirchen in Frankreich ein noch heute gültiger Gegenentwurf zu einer „fragwürdigen und unwissenschaftlichen Kunstgeschichte“ vorgelegt sei. Weder ist es Raphael mit dieser Schrift gelungen, sich von der Zunft abzusetzen, noch ist die heutige Kunstwissenschaft der aus Raphaels Tagen gleichzusetzen.
Max Raphael, Das göttliche Auge im Menschen. Zur Aesthetik der romanischen Kirchen in Frankreich. Herausgegeben von Hans Jürgen Heinrichs u.a., Suhrkamp Verlag; zugleich in der Max-Raphael-Werkausgabe, 11 Bände, Suhrkamp, (stw 831 bis stw 841).
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