Ein Parteitag ohne Resultate

■ Der Journalist und KPdSU-Delegierte Pawel Wolschtschanow über das Ende seiner Partei

INTERVIEW

Als einzige zentrale sowjetische Tageszeitung hat die 'Komsomolskaja Prawda‘ ohne Pause die Ereignisse des 28.Parteitags der KPdSU kommentiert. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst ihres Mitarbeiters Pawel Wolschtschanow. Fast alle ausländischen Korrespondenten heften sich mit Dankbarkeit an seine Beobachtungen. Pawel verdankt seine Perspektive allerdings auch einer bevorzugten Beobachtungsposition: Unter elf Konkurrenten aus Fabriken, Druckereien und Zeitungen wurde er im Bezirk der Moskauer „Fleet-Street“ zum Parteitagsdeputierten gewählt.

taz: Wenn man als Korrespondentin diesen Parteitag so beobachtet, fragt man sich, warum sitzen eigentlich all diese Leute bei diesem tropischen Wetter in einem Saal zusammen?

Pawel Wolschtschanow: Diese Partei ist ein gewaltiges historisches Paradoxon. Genaugenommen gibt es überhaupt keine kommunistische Partei in der Sowjetunion. Die KPdSU ist keine Partei, sie ist gewissermaßen ein Organ zum Machtvollzug. Eine Partei sollte doch erst einmal ihre eigene Ideologie haben. In diesem Pool hier jedoch haben sich schon seit langem Leute einzig und allein versammelt, um zu herrschen. Die Ideologie ging dabei verloren. Es gibt sie in der KPdSU einfach nicht. Und als dieser Partei jetzt klar wurde, daß sie vielleicht schon bald nicht mehr herrschen wird, da zeigte sich, daß nichts mehr übriggeblieben ist. Es gibt keine Idee mehr, die diese Leute vereinen könnte. Plötzlich wird deutlich, daß die Leute, die hier sitzen, sich politisch völlig verschieden orientieren. Da sind welche mit eher sozialdemokratischen Ansichten und solche, die den stalinistischen Methoden nachtrauern. Andere wollen die sozialistische Idee modernisieren. Es ist also der Parteitag der Widersprüche.

Wenn dem so ist, warum hat bisher niemand hier darüber gesprochen?

Weil die Basis dieses Parteitages die Apparatschiki bilden, die zu herrschen gewohnt sind. Und sie schaffen es, die Leute zu unterdrücken, die die Partei radikal reformieren wollen. Was aber hieße eine radikale Reform der Partei? Erst in zweiter Linie die Veränderung ihrer Struktur oder Umbildung ihrer Leitungsorgane, in erster Linie hieße das eine Reform ihrer Ideen. Und weil sie dies nicht wollen, reden sie über alles mögliche. Über die Investitionen in der Landwirtschaft, das Lebensmittelproblem und den Markt. Das sind natürlich alles sehr wichtige Fragen, und man müßte unbedingt darüber reden, wenn die Partei jetzt zum Beispiel eine aktuelle Wahlplattform entwerfen würde. Da aber einerseits keine Wahlen anstehen und die Partei andererseits halbzerfallen ist, ist die Reform der Partei die einzig aktuelle Frage. Da ist zum Beispiel auf diesem Kongreß sehr viel von Angriffen auf die Partei die Rede, aber niemand will so recht auf das Wesen dieser Angriffe eingehen. Denn es ist ja nicht so, daß das Volk mit all den Menschen, die die Partei bilden, unzufrieden wäre. Es ist unzufrieden mit jener Idee, die das Land in die Sackgasse und die Leute materiell und psychisch zu Bettlern gemacht hat. Von all dem müßte man sich verabschieden, wenn die Partei in der politischen Arena bleiben will. Wenn sie aber dort nicht bleibt, hätte dies andere Folgen als in Polen, der Tschechoslowakei oder der DDR - denn das hier ist ein ganz spezifisches Land. Bei uns sind Weltanschauung und sozialpolitische Orientierung im Volk noch ganz ungeformt. Und wenn diese Partei um ihrer Herrschaft willen eine weitere Vertiefung der allumfassenden Krise in diesem Land zuläßt, dann kann das unsere Gesellschaft ernsthaft erschüttern.

Wie gefällt ihnen der Vorschlag Boris Nikolajewitsch Jelzins, die KPdSU umzubenennen in „Partei des Demokratischen Sozialismus“?

Ich bin mit allen Vorschlägen, die Jelzin auf dem Parteitag gemacht hat, einverstanden, aber mit der Umbenennung sollte man noch ein wenig warten - wenn auch nicht mehr als ein halbes Jahr. Die Periode des Zerfalls wird nicht länger dauern. Danach kann man die Partei getrost umbenennen. Dies alles gilt für mich allerdings nur unter dem Vorbehalt, daß sich die Partei nicht radikal reformiert. Aber die Chance zu einer solchen radikalen Reform sehe ich auf dem gegenwärtigen Parteitag nicht.

Hat es irgendwelche Fortschritte in der nichtöffentlichen Kommissionsarbeit gegeben?

Mitnichten. Die Tonart war dieselbe wie im Plenum. Ich war in der Kommission für die „Erneuerung der Partei“. Konnte man zum Parteitag der russischen Kommunisten noch sagen, daß das Geschehen an der Oberfläche verläuft, so sind die eigentlichen politischen Prozesse auf diesem Parteitag wie der unsichtbare Teil eines Eisbergs. Ich jedenfalls habe in dieser Kommission keinerlei Hoffnung verspürt.

Wenn sie überhaupt irgendwelche Prognosen von mir hören wollen, so glaube ich, daß dieser Parteitag ohne Resultate enden wird. Natürlich werden irgendwelche Resolutionen angenommen werden. Natürlich mit irgendwelchen Korrekturen und wahrscheinlich werden die Korrekturen eher zum Negativen ausschlagen. Aber das ist nicht das eigentlich Tragische. Denn auf Parteitagen wird keine Politik gemacht, dort wird nur das Fundament dafür gelegt. Und nun stellen Sie sich einmal vor, wenn die vielen Deputierten aus dem Parteiapparat nach Hause zurückkehren und dort die auf dem Kongreß verabschiedeten Programmdokumente in die Tat umsetzen sollen, wird ihnen das wohl kaum in vollem Umfang gelingen. Das wären nicht die ersten guten Beschlüsse in der Sowjetunion, die sich dann in reines Papier verwandeln. Der ganze Parteitag wird wie Wasser durch die Finger rinnen.

Und was ist mit der vielbesungenen Konsolidierung der Partei?

Das ist ein Schlagwort. Aber außer frommen Wünschen gibt es dafür keine Grundlage. Die Voraussetzung dafür wäre ja, daß verschiedene Fraktionen innerhalb der Partei sich auseinandersetzen würden. Und dies geschieht nicht.

Und eine Konsolidierung von Teilen der Partei mit demokratischen Kräften außerhalb, wie es Jelzin fordert?

Das wäre denkbar. Aber noch nicht heute. Das Schrecklichste, was ich mir vorstellen kann ist, daß der linke Teil der KPdSU sich abspaltet und unmittelbar danach als Einheit zerfällt, sich einfach in eine Menge ganz winziger und völlig ohnmächtiger gesellschaftlicher Strömungen und Organisationen verzweigt. Ich sehe in unserer Gesellschaft nicht die sozialen Schichten, die neue demokratische Parteien an die Macht bringen könnten. Dieses einflußlose Spektrum würde dann einer zahlenmäßig immer noch bedeutsamen konservativen, um nicht zu sagen - reaktionären

-KPdSU - gegenüberstehen. Das ist eine fast paramilitärische Organisation mit ausgezeichneter Disziplin und beträchtlichem finanziellem und materiellem Reichtum. Die einzige Alternative zu dieser Entwicklung wäre eine Koalition der verschiedenen gesellschaftlichen Mikroströmungen. Eine solche Koalition existiert aber heute nicht einmal innerhalb der „Demokratischen Plattform“ in der KPdSU.

Und wie beurteilen Sie die Vereinigung „Demokratische Einheit“, die sich Ende letzter Woche aus Vertretern der „Demokratischen Plattform“, den Komsomoldelegierten, der Gruppe der „22jungen Kommunisten“ und auch einzelnen Persönlichkeiten aus der „Marxistischen Plattform“ auf dem Kreml-Hof gebildet hat?

Von diesem Markenzeichen stimmt nur der erste Teil: Das sind wohl wirklich Demokraten, aber von einer einheitlichen Aktion unter ihnen kann keine Rede sein. Und dies nicht etwa deshalb, weil sie keine gemeinsame Sprache fänden, sondern deshalb, weil der Parteitag eine Erörterung der Fragen, die ihnen am Herzen liegen, nicht zuläßt. Und nach dem Parteitag werden sie alle wieder auseinanderlaufen.

Und wie wird die Wahl des Generalsekretärs ausgehen?

Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß Gorbatschow den Posten wieder bekommt. Entscheidender wird aber die Zusammensetzung des neuen ZK sein. Wenn es da einen Rechtsruck gibt, dann wird Gorbatschow zu einem „konstitutionellen Monarchen“, der selbst nicht regiert.

Interview: Babara Kerneck