: Gorbatschow wischt dem Apparat eins aus
■ Die Ergebnisse des Parteitags können als Niederlage der Apparatschiks gewertet werden. Nun wird sich entscheiden, ob Gorbatschow auch den neu geschaffenen Posten des stellvertretenden Generalsekretärs mit seinem Favoriten, dem Parlamentspräsidenten der Ukraine, Wladimir Iwaschko, besetzen kann - oder gelingt es den Konservativen, Gorbatschows Gegenspieler Ligatschow als Spiritus rector durchzusetzen?
Wende in der Geschichte der KPdSU
Ich glaube, wir brauchen einschneidende Veränderungen im ZK und auf der lokalen Ebene. Darüber solltet ihr euch im klaren sein, bevor ihr eure Stimme abgebt“, warnte der alte und neue Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, die Delegierten des 28. Parteitages unter Zuhilfenahme mannigfaltiger Drohgebärden. Der Saal antwortet ihm mit demonstrativem Fehlverhalten. Wo der Diktus der Rede Zustimmung verlangt hätte, blieb der Applaus aus. Wo Nachdenklichkeit und Reue angesagt gewesen wären, setzte er ein. Das brauchte den alten Generalsekretär nicht mehr zu stören. Denn zu diesem Zeitpunkt war seine Wiederwahl mehr oder weniger beschlossene Sache. Viele Delegierte wählten mit dem neuen Generalsekretär auch ihre eigene unsichere berufliche Zukunft - gegen ihren Willen. Dafür gesorgt hatten die federführenden Figuren des konservativen Lagers, nachdem sie sich schon letzte Woche auf Gorbatschow als „ihren“ Kandidaten geeinigt hatten. Eins haben die schlauen Köpfe der Konservativen erkannt: Die Kandidatur eines Hardliners würde die Partei nicht nur mit einer Spaltung und Massenaustritten bezahlen. Innerhalb kürzester Zeit hätte sie sich auch ins gesellschaftspolitische Aus manövriert.
Gorbatschows Resumee der Parteitagsdiskussion markiert einen Wendepunkt in zweierlei Hinsicht. Auf der semantischen Ebene hat sich der neue Generalsekretär von seinen oft schwammigen Kompromißformeln weitestgehend gelöst. Für die Praxis kündigte er zudem an, Saboteure seiner Politik in wichtigen Positionen nicht mehr zu dulden. Es könne nicht angehen, daß Präsident und Regierung die eine, und wichtige Funktionäre eine andere Meinung vertreten. „Wenn sie noch irgendeinen Anstand besitzen, sollten sie um ihre Entlassung bitten und abtreten.“
Die Diskussionen des Parteitages hatten eins deutlich zutage gefördert: den Widerwillen der Apparatschiks, sich mit dem zunehmenden Einfluß der Sowjets zu arrangieren. Die Frage, wie sich die Partei auf die Herausforderungen eines Mehrparteiensystems, die hier eigentlich hätten gestellt werden müssen, einrichten wird, wurde konsequent umschifft. Zwar tagte eine Arbeitsgruppe zum Problembereich „Verhältnis der KPdSU zu den Sowjets und anderen gesellschaftlichen Organisationen“, aber deren Verlauf untermauerte das ohnehin Bekannte. Die Mehrheit der Funktionäre wußte genau, daß auf dem Kongreß in dieser Frage keine Politik gemacht wird. Die findet in den Rayons und Kreisen statt, dort, wo sie immer noch fest in den Sattel sitzen. Und für sie hat der Artikel 6, der der KPdSU die Vorreiterrolle sicherte, immer noch Gültigkeit. Wenn die Partei auch unter einem schwindenden gesellschaftlichen Machtverlust leidet, so ist sie in der Provinz immer noch die einzige organisierende Kraft - mit einer in 70 Jahren ausgebauten Infrastruktur und deckungsgleich mit den Staatsorganen. Die Funktionäre sind sich dessen bewußt. Daraus resultiert auch Gorbatschows Zurückhaltung, den Apparat rücksichtslos zu zerschlagen. Die Taktik der Zentristen, die Partei zusammenzuhalten, um so von oben Veränderungen in der Machtstruktur vorzunehmen, muß ihre Praktikabilität noch unter Beweis stellen.
Allerdings hat Gorbatschow mit dem Votum des Parteitages jetzt die Legitimation, Eingriffe in die Strukturen des politischen Apparates vorzunehmen und die Forcierung des wirtschaftlichen Umbaus in Richtung Marktwirtschaft voranzutreiben. Denn auch die Führungsriege der Konservativen - Poloskow, Ligatschow und Gidaspow - hat diesen Weg durch die Absegnung der Resolution zum Rechenschaftsbericht des ZK mitbeschritten.
Die Kampfansage an den Apparat und die Forderung nach marktwirtschaftlichen Strukturen werden es nun den radikalen Teilen der KPdSU, die sich in der „Demokratischen Plattform“ gesammelt haben, erschweren, der Basis den geplanten Austritt aus der Partei noch verständlich zu machen. Vor dem Kongreß hatten die Radikalen für ihren Verbleib in der Partei drei Bedingungen gestellt: Der Kongreß sollte sich von dem von der Realität längst überholten Fraktionsverbot trennen, die Entpolitisierung von Armee und KGB beschließen und auf das Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus verzichten. Noch sind die Forderungen nicht eingelöst. Aber das Tor dorthin scheint geöffnet.
Wie bisher in dieser Schärfe auch noch nicht geschehen wies Gorbatschow die Militärs in ihre Schranken. Sie hätten in der fortschrittlichen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, als klopfe die Diktatur an die Tür. „Keine Diktatur - wenn jemand diese verrückte Idee in seinem Kopfe hat - wird irgendetwas lösen können.“ In dieser klaren Aussage liegt eine Aufforderung an die radikalen Reformer, ihre Positionen noch einmal zu überdenken. Dabei hat ihm in der vergangenen Woche schon Boris Jelzin assistiert, die Gallionsfigur des radikalen Flügels. Aus der Erkenntnis, was für ein Machtvakuum entstünde, wenn die Partei binnen Kürze in den Strudel der Geschichte gerissen würde, ohne funktionsfähige Sowjets, die ihren Platz ausfüllen könnten, hatte er sich mit einem Einheitsappell an den Kongreß gewandt. Dieser war aber hauptsächlich an die Zentristen um Gorbatschow gerichtet. Eine erneuerte Partei sollte mit anderen politischen Gruppierungen „eine Union demokratischer Kräfte“ bilden. Damit bot sich Jelzin Gorbatschow an für den Fall, daß der Kongreß ihm die Reformen verweigert hätte.
Aus dem Parteitag geht der Apparat geschwächt hervor. Als die Umbenennung des Politbüros im Präsidium zur Debatte stand, lehnten die Delegierten ab. Es handelte sich nur um eine sprachliche Korrektur. Dafür wurde aber die schwerwiegendere Umstrukturierung des Politbüros akzeptiert. Auf 25 Mitglieder erweitert, werden ihm alle 15 Ersten Sekretäre der Republikparteien angehören. Schon jetzt ist abzusehen, daß es diesem Gremium an Arbeitsfähigkeit gebrechen wird - eine Chance für den Präsidenten und seinen Rat, dieses Vakuum zu nutzen.
Klaus-Helge Donath, Moskau
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