"Auf Deutschlands Straßen ist was los"

■ betr.: "Editorial" von Axel Kintzinger, taz vom 10.7.90

betr.: „Editorial“ von Axel Kintzinger, taz vom 10.7.90

Während die Moderatorin von „Tagesthemen“ bei den Fußballbegeisterten auf Deutschlands Straßen eine Zunahme nationalistischer Gefühle feststellt, die ihr ein deutlich sichtbares Unbehagen verschaffen, macht die taz heute ganz in Opposition und fragt sich, was daran schlecht sein soll. Der Autor versucht auch nicht etwa, herunterzuspielen, zu bagatellisieren, nein, es geht der taz offensichtlich mal wieder darum, ein Tabu zu brechen und das „Sieg„-Gebrüll auf der Straße zu einer erfreulichen Entwicklung umzuinterpretieren. (...) „Auf Deutschlands Straßen ist was los.“, schreibt Kintzinger. Was, das scheint ihm völlig egal zu sein.

Denjenigen - und das sind keineswegs nur Fußballmuffel -, die so nicht mitfeiern wollen, bescheinigt er einmal mehr ihre traditionellen Probleme mit den Emotionen des Volkes. Und tatsächlich - wir haben Probleme mit den nationalistischen Gefühlen - auch in Italien und anderswo ganz besonders mit denen des wiedervereinigten Deutschlands. (...) Die Nachkriegszeit ist zu Ende, die Schuld getilgt, der deutsche Nationalismus nicht schlimmer als alle anderen. Alles ganz normal und sowieso nicht zu ändern.

Daß die italienischen Fans, die beim WM-Finale so lieb ihre Flaggen zwischen den schwarz-rot-goldenen schwenkten und die bundesdeutsche Mannschaft unterstützten, „unbehelligt mitfeiern“ durften, ist kein Gegenbeweis zum Aufschwung des Nationalismus und der darin enthaltenen Aggressivität allem Fremden gegenüber. Der WM-Titel hat den Deutschen nun das Kaiserkrönchen aufs erhobene Haupt gesetzt - diese politische Bedeutung der WM wurde im Ausland schon früh erkannt.

Claudia Roth, MdBP Die Grünen, Petra Hanf

(...) Natürlich sind auch italienische Fußballfans nationalistisch, aber gemäß ihrer südländischen Mentalität nehmen sie sich damit selbst nicht so ernst. Der deutsche Jubel ist verbissen und will sagen: Wir sind wieder wer! Vielleicht ist es dieses „wieder“, das so erschreckend ist. (...)

„Wohl keinen Nationalstolz!“ brüllte uns eine Gruppe Fans nein, keine Hooligans, ganz „normale“ Fans - entgegen, als wir Mittwochnacht auf der Reeperbahn angewidert diese wiederbelebte Form von Nationalismus und Chauvinismus beobachteten. (...) Das rechtsradikale Gewaltpotential, das in den letzten Wochen in der BRD und anderswo deutlich wurde, wurde nicht von einer Minderheit getragen. Es muß als solches in seiner Bedrohlichkeit ernst genommen und bekämpft werden. Sonst sind wir wirklich bald wieder so weit!

Kiki Sting, Hamburg

Mich stören Autokonvois in Italien. Mich stören in Orange gesteckte Holländer. Besonders stört mich, daß sich eine angeblich „linke“ Tageszeitung von dieser nationalistischen Massenhysterie nicht distanziert, zumindest Axel Kintzinger nicht. So gerne ich Fußballspiele sehe, mir gefällt es immer, wenn die „besser“, heißt fürs Auge schön spielende Mannschaft, gewinnt - und heißt sie auch Kamerun.

Reinhard Kolb, Neckargemünd 3/BRD

Wenn Du Dich mit Deiner Einschätzung der jubelnden Massen mal nicht verdribbelt und beim Rückpaß ein klassisches Eigentor geschossen hast!

Was ich in der Nacht zum Montag auf dem Kudamm und in den Seitenstraßen gesehen habe, waren keine gelösten und freudig entspannten Menschen, sondern verbissene Gesichter und eine Stimmung so nach dem Motto: „Auf in den Kampf, jetzt wird sich vergnügt!“ Außerdem - zur „rechten“ Zeit von den „rechten“ Leuten hochgepusht, brennen mindestens zehn Prozent dieser deutschlandtrunkenen Meute noch jede Kebabhütte nieder und lynchen tamilische Rosenverkäufer und der Rest findet's gut oder hat's nicht gesehen. In diesem Land, in dem eine Auseinandersetzung mit der national(sozialistisch)en Vergangenheit nur als Alibi betrieben worden ist, wenn überhaupt, sollten patriotische Massenbegeisterungen über eine im sportlichen Sinn wohlverdient gewonnene WM immer noch mit der kritischen Distanz betrachtet werden, die einem geschichtsbewußten Menschen wohl anstände.

Wolfgang Fuchs, Berlin 42

Wenn ein Volk meint, sich über Männerbünde zur Nation erklären zu müssen - so ist das eine Sache. Wenn rechtsradikale und ausländerInnenfeindliche Veranlagungen nur einen sanften Anstoß von außen brauchen, um auszubrechen - so ist das eine andere Sache.

Für mich als Frau ist ersteres schon unerträglich genug, wenn der männliche Teil der Bevölkerung meint, mir und den anderen Frauen demonstrieren zu müssen, wie toll „seine Jungs“ und sie selbst dadurch auch sind. Das nehme ich auch den „freudetrunkenen Massen von Rom und Buenos Aires“ übel.

Wenn jedoch in Ost- und West-Deutschland von dieser „freudetaumelnden Masse“ AusländerInnenhetze betrieben wird, nationale und rechtsradikale Parolen gegrölt werden, wenn bei dem „Sieg„-Gegröle das „Heil“ nicht mehr fern ist, dann ist das ein Aspekt, der über eine anscheinend unpolitische Volksfeststimmung hinausgeht. Dann wird so eine Gleichsetzung fatal. (...)

Petra Titze, Berlin 44

Herr Kintzinger sucht die moralische Legitimation des Massenaufmarsches deutscher Patrioten nach dem Fußball-WM -Finale in dem Verweis darauf, daß auch in anderen Ländern zu ähnlichen Anlässen ausgiebig gesungen und gesoffen wird. Doch ist und bleibt der deutsche (Fußball-)Patriotismus genauso beispiellos wie die Geschichte Deutschlands.

Mit ihren „Allez les bleus„-Gesängen dokumentieren zum Beispiel die französischen Fußballfans, daß ihre Liebe der Mannschaft der Blauhemden gilt und nicht zwangsläufig der Nation. Die Italiener können ihre leidenschaftliche Verehrung der „Squadra azurra“ traditionell vereinbaren mit der Fähigkeit, bei Niederlagen kurze und heftige Trauerarbeit zu leisten. Auch das frühzeitige Ausscheiden ihrer Mannschaft konnte die Iren, analog zu den Dänen vor vier Jahren, nicht von Freudenfesten zu Ehren des beachtenswerten Auftretens ihrer Fußballer abhalten.

Nach einer Niederlage feiern? In Deutschland ausgeschlossen. Denn, so verlautete es - von Beginn an bis zum End(spiel)sieg - aus den Reihen der Nationalmannschaft: Deutschland gehört nirgendwo anders hin als an die Weltspitze. Als Brehme den Elfmeter zum 1:0 verwandelte, schoß er gleichzeitig den Ausgleich für alle Dämpfer, die der deutsche Größenwahn in der Vergangenheit erfahren mußte. Dies, und nur dies, konnte derart ekstatische Jubelstürme entfachen. (...)

Andre Guonot, Berlin 21

Anmerkung der Redaktion: Zu dem Beitrag von Axel Kintzinger erschien am 11.7. auf Seite 10 eine Erwiderung von Ömer Erzeren und Erich Rathfelder: „Deutsche Normalität?„