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amnesty-Rüge gegen rot-grünes Berlin

■ Menschenrechtsorganisation amnesty international beklagt den Umgang mit Flüchtlingen in West-Berlin / Unmenschliche Zustände: Flüchtlinge müssen zum Teil mehrere Tage und Nächte anstehen, um Asylantrag stellen zu können

Aus Berlin Andrea Böhm

Mit dem Bekenntnis zu einer humanen Flüchtlingspolitik war der rot-grüne Senat in West-Berlin vor über einem Jahr angetreten, herausgekommen ist nun ein Armutszeugnis besonderer Art: die Menschenrechtsorganisation amnesty international sieht sich genötigt, dem Senat eine scharfe Rüge zu erteilen. Anlaß sind die Zustände vor der Asylstelle der Berliner Ausländerbehörde: seit Wochen müssen Flüchtlinge vor dem Amtsgebäude inmitten eines Industriegebietes im Stadtbezirk Wedding unter freiem Himmel kampieren, um am nächsten Morgen wenigstens die Chance zu haben, einen Asylantrag stellen zu können.

Kampf um die

vorderen Plätze

Bereits um Mitternacht beginnen die Menschen, eingezwängt zwischen Polizeigittern, vor dem Eingangstor zur Asylstelle einen Kampf um die vorderen Plätze. Weil nur dort Asylanträge entgegengenommen werden, hat sich die völlig überlastete Behörde zum Nadelöhr entwickelt. Nur wer die Nacht in einer der vorderen Reihen übersteht, hat am Morgen Aussicht, eine der Wartemarken zu erhalten, die überhaupt erst den Zutritt zur Asylstelle ermöglichen. Die körperlich Schwächeren ziehen den Kürzeren, Frauen haben ohnehin keine Chance. Ab und an schreiten Polizisten in Kampfanzügen und mit Schlagstöcken ein, um die Menge vor dem Tor zurückzutreiben. In einigen Fällen haben Flüchtlinge bereits entnervt und demoralisiert ihre Anträge auf Asyl zurückgezogen. amnesty international sieht deswegen den Zugang zu einem fairen Asylverfahren gefährdet. Aber „darauf hat jeder, der einen Flüchtlingsstatus geltend macht, Anspruch“, erklärte amnesty-Sprecher Karsten Lüthke, „und zwar unter menschenwürdigen Bedingungen.“

Obwohl dem Senat die Zustände seit Wochen bekannt sind, konnten sich die zuständigen Stellen bislang nicht dazu durchringen, den Wartenden wenigstens ein Zelt und warme Getränke zur Verfügung zu stellen. „Wie die Tiere werden wir behandelt“, so die Worte eines 34jährigen Rumänen, der drei Tage und Nächte vor der Behörde verbrachte, bis er endlich seinen Asylantrag einreichen konnte. Im Hause des Berliner Innensenators verweist man auf die ständig steigenden Flüchtlingszahlen und die Überlastung der Ausländerbehörde. Zwischen 2.500 und 3.000 AntragstellerInnen werden monatlich registriert; in der Mehrzahl sind es Frauen und Männer aus Rumänien, Vietnam, Mozambique und Angola, die als VertragsarbeiterInnen in die DDR gekommen waren und nun vom Rausschmiß bedroht sind.

In den Schlangen vor der Berliner Ausländerbehörde finden sich auch zunehmend Rumäniendeutsche, die eigentlich nicht um eine Anerkennung als politische Verfolgte, sondern als Deutschstämmige nachsuchen. Seit dem 1. Juli wird das Verfahren für Aussiedler jedoch nur noch über die bundesdeutsche Botschaft in Bukarest abgewickelt. „Ich denke nicht im Traum daran, deswegen nach Rumänien zurückzugehen“, erklärte ein Arzt aus Siebenbürgen, der im Trainingsanzug, mit Decke und Sitzkissen, 48 Stunden vor der Asylstelle wartete.

Bürgermeister: Zusätzliche

„soziale Spannungen

nicht akzeptabel“

Entschieden hat man im Berliner Senat bislang lediglich, die Asylstelle in ein größerers Gebäude zu verlegen - wieder inmitten eines Gewerbegeländes, diesmal im Stadtbezirk Tiergarten. Dessen sozialdemokratischer Bezirksbürgermeister meldete postwendend Protest an. Die Lebensqualität der AnwohnerInnen sei durch Industrie und starken Lkw-Verkehr ohnehin schon beeinträchtigt. Zusätzliche Lärmbelästigung durch die wartenden Flüchtlinge „sowie nicht auszuschließende soziale Spannungen“ hält der Bezirkspolitiker für „nicht akzeptabel.“

An der Situation vor der Ausländerbehörde im Wedding ändern die Umzugspläne vorerst nichts. Mindestens sechs Monate wird es dauern, das Gebäude entsprechend herzurichten. Abgeordnete der AL und der SPD, die Westberliner Ausländerbeauftragte sowie Flüchtlingsorganisationen fordern unisono, das Asylverfahren zu dezentralisieren: Nicht die Flüchtlinge sollen zur Behörde kommen, sondern die Behörde zu den Flüchtlingen. „Es ist durchaus möglich, die Anträge in den Wohnheimen der Flüchtlinge entgegenzunehmen“, erklärte der ausländerpolitische Sprecher der AL-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Hartwig Berger, der das momentane Verfahren als „praktizierten Rassismus in bürokratischer Unerbittlichkeit“ bezeichnete. Auch sein Kollege aus der SPD -Fraktion, Eckhard Barthel, mußte einräumen, daß man ÜbersiedlerInnen aus der DDR tage- und nächtelanges Warten zwischen Schrottplätzen und Industriekanal wohl nie zugemutet hätte.

Zumindest eine kleine Verbesserung verkündete gestern ein Vertreter der Ausländerbehörde. Ab sofort werden Wartenummern in den Wohnheimen an die Asylsuchenden verteilt.

Zwischen Resignation

und Renitenz

Die Flüchtlinge, durchfroren und übernächtigt, schwanken währenddessen zwischen Resignation und Renitenz - über sprachliche und ethnische Grenzen hinweg. „Eine Demonstration mit Plakaten“ schlug ein Flüchtling aus der Sowjetrepublik Moldawien vor. Zwei rumänische Studenten, die nach dem Einsatz von Bergarbeitern zur Niederschlagung der Opposition gegen Staatspräsident Iliescu aus Bukarest geflohen sind, wollen vor den Toren der Behörde in einen Hungerstreik treten. Auf die Stellungnahme eines Senators oder auch des Regierenden Bürgermeisters Momper warten Flüchtlinge und Hilfsorganisationen bis heute. „Man muß diesen Senat offenbar treten, bevor er etwas unternimmt“ glaubt daher die evangelische Superintendentin im Wedding, Erika Gode. Sie will nun nachts mit Pfarrern der umliegenden Gemeinden vor Ort gehen, „auch wenn wir erstmal nicht mehr anbieten können, als humanitäre Freundlichkeit und etwas Tee.“

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