„Nichts muß bleiben, wie es ist“

■ Volksbühnengeschichte 1890-1990 in der Stadtbücherei Tempelhof

Die Freie Volksbühne hat's nötig: endlich wieder das Volk zu suchen, das in ihrem leeren Glashaus nicht mehr zu finden ist. Sie geht und sucht auf einer Wanderung durch die Stadtbüchereien den Proletarier auf, den zu bespielen sie einst gegründet wurde. Zwischen Videokassettenregalen, Tageszeitungsständen und Kinderbuchabteilungen präsentiert sie gegenwärtig in Tempelhof die hundertjährige Geschichte des Hauses, nach dem Vorbild der volksnahen Grundschulästhetik auf drei mobile Pappstellwände geklebt.

„Eine freie Bühne für das moderne Leben schlagen wir auf“, so hieß es vielversprechend in ihren Anfängen um 1870. Aus der unzeitgemäßen Klassik wollte man raus, auf der freien Bühne sollte die Wirklichkeit angeschaut werden; als Wahrheit sollte die des unabhängigen Geistes gelten, der „nichts zu beschönigen und nichts zu vertuschen hat“. Die „Freie Bühne“, gegründet von Otto Brahm, Julius Hart. G. Stockhausen und J. Steffenbein, setzte sich für die Inszenierung naturalistischer Stücke ein, im Gesprächskreis „Alte Tante“ wurden die ersten Aufführungen von Ibsen, Hauptmann, Sudermann diskutiert. Um das neue Theater aber nicht einer geistigen Elite vorzubehalten, wurde schon bald eine Initiative zur Gründung einer freien Volksbühne gestartet, da dem Proletarier aus wirtschaftlichen Gründen die Mitgliedschaft in der Freien Bühne nicht möglich war. Mit der Inszenierung von Ibsens Stützen der Gesellschaft eröffnete die Freie Volksbühne am 19. Oktober 1890 ihre Tore. Ihr Publikum wird in einem zeitgenössischen Kommentar folgendermaßen charakterisiert: “...Unerzogenheit der Theaterbesucher, mit dem guten Willen, alles schön zu finden“.

Offensichtlich gab es zwischen den Initiatoren der Volksbühnenbewegung schon bald Differenzen darüber, welche Art moderner Kunst dem Volk nahezubringen sei. Es kam zur Spaltung: Während die Freie Volksbühne unter ihrem neuen Vorsitzenden Franz Mehring weiterhin dem Naturalismus verpflichtet blieb, gründete Bruno Wille 1892 zusammen mit Gustav Landauer, Max Halbe, Julius Hartleben und Emil Lessing die Neue Freie Volksbühne, die das expressionistische Theater förderte und Stücke von Ernst Toller und Georg Kaiser auf die Bühne brachte. In den beiden konkurrierenden Volksbühnenvereinen verschob sich das Zahlenverhältnis zunehmend zugunsten des letzteren: Vor der Fusion der beiden Vereine 1913 zählte die Neue Freie Volksbühne 48.000 Mitglieder. Just zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bekam der Verein endlich ein eigenes Haus am Bülowplatz, dessen Direktor Max Reinhardt wurde.

Die Ausstellung hat Fotos aller namhaften Schauspieler der zwanziger Jahre von Curt Bois über Peter Lorre bis Alexander Granach, Ernst Lubitsch u.a. zu bieten. Von den Inszenierungen, dem Spielplan usw. erfährt man indes nur das, was aus ein paar Theaterplakaten hervorgeht. Es wird nicht erklärt, warum die Volksbühne 1926 ins Theater am Schiffbauerdamm übergesiedelt ist, warum Herbert Ihering beklagen mußte, daß sie zum Philisterverein herabgesunken sei. Der Streit um Erwin Piscators Inszenierungen und das Verhältnis von Politik und Theater wird nicht erhellt. Erwähnt wird, daß 1933 der Verein aufgelöst und 1939 aus dem Vereinsregister gestrichen wurde.

Nach dem Krieg wurde die Freie Volksbühne für die Westsektoren 1947 im Titaniapalast wiedereröffnet, die ersten Vorstellungen fanden im Theater am Kurfürstendamm unter dem Intendanten Siegfried Nestriepke statt. Parallel dazu wurde im Osten der Bund deutscher Volksbühnen gegründet. Seit 1957 kämpfte Nestriepke für ein eigenes Haus, 1963 wurde dann die Freie Volksbühne in der Schaperstraße eröffnet. Mit einigen Intendantenporträts und wenigen Inszenierungsfotos aus der „Ära Neuenfels“ beschließt man die Ausstellung, die wahrscheinlich nicht zufällig in der Darstellung der Nachkriegszeit jedes inhaltliche Konzept vermissen läßt. Stellvertretend für alle Theaterleiter wird Nestriepke zitiert, dessen Kredo immerhin von 1929 stammt: „Der Leiter eines auf einer Besucherorganisation aufgebauten Theaters soll sich auch stets des besonderen Charakters seiner Bühne bewußt bleiben. Man muß von ihm erwarten, daß er ein wirklicher Führer seines Unternehmens ist, also dem Theater den Stempel der Persönlichkeit aufdrückt; aber er soll dabei das Theater doch so leiten, daß in ihm die Interessen und besonderen Tendenzen der von der Organisation erfaßten Massen zum Ausdruck gelangen.“ Die von der Organisation erfaßten Massen sind bis jetzt vorwiegend Touristen, vielleicht dank der Ausstellung ein paar Stadtbüchereibesucher und ein paar neue Besucher aus dem Osten - wie sollten und könnten ihre Interessen und Tendenzen in der Theaterarbeit zum Ausdruck gelangen? Daß sich das Theater schon in der Ausstellung unterhalb des Niveaus seiner eigenen Geschichte präsentiert, läßt auch für die Zukunft, trotz des publikumsfängerischen Feldzugs, von der Theaterarbeit nichts Gutes erhoffen.

Michaela Ott

Bis zum 23. August in der Stadtbücherei Tempelhof, Götzstraße 8-12. Öffnungszeiten: Mo., Di., Do., Fr. 12 bis 20 Uhr, Mi. 10 bis 18 Uhr.