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DIE HELDENSTADT MARSCHIERT NICHT MEHR

■ Besuch in Leipzig, Momentaufnahmen einer Stadt in Deutschland

Besuch in Leipzig, Momentaufnahmen einer Stadt in Deutschland

VON ANDREAS WENDEROTH

Die Montagsdemos sind lange schon vorbei, die Heldenstadt Leipzig marschiert nicht mehr. Man zahlt jetzt in D-Mark, eine neue Geschäftigkeit ist eingekehrt.

Aufpolierte Messestadt im Zentrum. Schön anzusehen. Alte Handwerkerzunftzeichen neben majestätischen Kaufmannshöfen, Auerbachs Keller und Gewandhaus, Geschäftsviertel und einladende Cafes. Leipziger Allerlei. „Klein-Paris“ nannte es Goethe.

„Hier wohnen noch Leute, Eintritt frei“ steht an einem Haus geschrieben, für das jede Sanierung zu spät kommt. Je mehr man in die Randbezirke Leipzigs kommt, desto schlechter steht es um die Qualität des Altbaubestandes. Der Reiz des Verfallenen mag für den Touristen groß sein, die Einwohner empfinden nur Trauer über verlorene Chancen.

„Die wollten immer nur unser Bestes - und haben es auch bekommen.“ Ein Hauch von Larmoyanz im Kabarett der Leipziger „Pfeffermühle“. Etwas brav wirkt das Programm. Vorbei die Zeiten, in denen es der Zensur zum Opfer fiel, der politische Sprengstoff ist raus, die Unsicherheit im Umgang mit der neugewonnenen Freiheit spürbar. Artiger Beifall eines eher gesetzten Publikums.

In einem großzügigen, hellen Raum mit hoher, stuckverzierter Decke steht ein verhängter Flügel. In der Ecke ein Kamin, gediegene Möbel und an den cremefarbenen Wänden Bilder, die an die Geschichte des Verlagshauses Kiepenheuer erinnern. Hinter einem schweren alten Holztisch zwischen einem Bücherstapel und einem Kerzenleuchter lugt ein spärlicher Backenbart und die dicke rote Brille von Herrn Hexelschneider hervor. Dann schieben sich seine leicht wulstigen Lippen vor und beginnen zu erzählen... Vom wechselvollen Leben des ehemaligen Autorenverlages Kiepenheuer in der DDR, seinen Gründerjahren, der Überführung in „Volkseigentum“ 1952 und dem Zusammenschluß mit den Verlagen Diederich und Insel im Jahre 1977... „Obwohl traditionell, kennen wir keine Tabus.“ Herr Hexelschneider wirft sich ins Zeug. Die Erotikreihe des letzten Jahres war ein großer Erfolg im „Leseland DDR“. Etwas leidend wird seine Miene, als er der Befürchtung Ausdruck verleiht, das Interesse an Kühlschränken, Videoanlagen und Autos würde das Buch in der DDR rasch in die Zweitrangigkeit drängen. Für die nächsten Monate erwartet der Kiepenheuer-Verlag, was den Verkauf von Büchern angeht, „absolute Funkstille“. Der Anflug eines Lächelns spricht aus den Zügen Hexelschneiders. Es ist die Sicherheit desjenigen, der warten kann.

Die Deutsche Bücherei, die zur Zeit noch dem Bildungsministerium unterstellt ist und später wahrscheinlich direkt dem Innenministerium zugeordnet werden wird, hat den Krieg relativ gut überstanden. Ein Drittel aller Bibliotheken Deutschlands war vollständig zerstört worden. Angesichts der Tatsache, daß die Bombenlast, die auf Leipzig abgeworfen wurde, in etwa derjenigen auf Dresden entsprach, verwundert es, daß kein einziges Buch vernichtet wurde. Anders bei den Zeitschriften: 20.000 fielen einer Brandbombe, die bis in den Keller durchschlug, zum Opfer. 235.000 Neueingänge gab es im letzten Jahr, man steht mit der Deutschen Bibliothek in Frankfurt/Main in Verhandlungen, eine gemeinsame Nationalbiographie ist im Gespräch. Probleme hatte man, erklärt der Führer, mit Kunden, die regelmäßig Mädchen aus Fotozeitschriften und Orden aus Militaria -Literatur herausschnitten. An bestimmte Bücher sei man zu Zeiten des SED-Regimes nicht herangekommen. Der Bibliotheksführer, studierter Philosoph, erklärt, wie er es machte: „Ich habe mir als Forschungsarbeit die Kritik der bürgerlichen Philosophie ausgesucht. Nu, da war die Sache gelaufen!“, und ein breites sächsisches Lachen erfüllt den Raum.

Leute kann man auswechseln, alte Denkstrukturen sind da schon resistenter. Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion Journalistik. Ein Dozent, der sich selbst der Beatles -Generation zurechnet, aber eher so aussieht wie Ulbricht und auch ein wenig so spricht, erklärt: „Der soziale Wert eines Tagesschlagers kann wesentlich höher sein als der einer Beethoven-Symphonie.“ Unterhaltung sei eine Notwendigkeit des Revolutionsprozesses, eine „Synthese aus Kunstproduktion und Ideologie“, stets „klassengebunden“ und Anleitung zur „sozialen Orientierung“. Die Mehrzahl der Studenten goutiert das wenig, liest mit weit größerem Interesse in den Stasi-Listen der DDR-taz.

„Wir müssen uns beim Laufen die Schuhe zubinden, und dabei stolpert man gelegentlich.“ Der Chefredakteur der 'Leipziger Volkszeitung‘, Klaus Tiedke, schildert die Situation seiner Zeitung, während er einen Philips-Kugelschreiber durch die Finger gleiten läßt. Die ehemals 480.000 Auflage seien kaum zu halten, der Preis müsse verdreifacht werden. Noch fänden sich Todesanzeigen, Heiratsgesuche und Stellenangebote auf der gleichen Seite. Es fehle an Konzeption, ein eigenes Anzeigenblatt müsse her, sagt Tiedke. Die Einführung eines klassischen Wirtschaftsressorts und ein starkes Feuilleton seien geplant. Angst hat Tiedke vor den Zwängen des Marktes, vor einer Angleichung an den Massengeschmack. Er befürchtet Trivialität.

In der Moritz-Bastei, einem alten Gemäuer, treffen sich die Studenten der Stadt und verfolgen die Fußball -Weltmeisterschaft. Zwei Kubaner spenden jedem Spiel frenetischen Beifall. „Das sind Kosmopoliten“, erklärt mir jemand. „Die klatschen für alle, nur für die Deutschen nicht.“ Eine Band legt alte Charlie-Parker-Songs neu auf. An einem Billardtisch spielen alle mit, die spielen wollen, auch wenn sie später dazukommen - eine große Gemeinschaft beinahe. Man kommt ins Gespräch, auch wenn man es nicht sucht. Fremd ist den Leuten der Sarkasmus westlicher Provenienz, das gegenseitige Lächerlichmachen. „They speak their mind“, meint ein Ami zu mir. Sie sagen, was sie denken...“ „Ich habe PDS gewählt, weil das Bündnis 90 eh keine Chancen hatte“, meint einer, der Angst hat vor der Wiedervereinigung. Auf dem Klo ist neben dem Spiegel ein Aufkleber: ein verändertes DDR-Symbol. Der Lorbeerkranz ist noch da, aber anstelle von Hammer und Sichel ist der Kopf von Mickymaus getreten. Darunter ein Bild des lächelnden Theo Waigel.

„Die haben vierzig Jahre gewartet, und jetzt machen sie'n Aufstand!“ Der Fahrer des großen Reisebusses ist erbost über einen Wartburg, der nicht willig ist, ihm den Weg frei zu machen.

„Espenhain“, das klingt romantisch, wenigstens für den Industrieromantiker. Etwas außerhalb von Leipzig, es geht vorbei an Rauchfahnen, die aus metallenen Burgen entweichen, Förderbändern, Gleisen, aufgewühltem Erdreich, das im düsteren Violett gespenstisch in der Abendsonne erstrahlt. Einen schmalen Waldweg entlang. Es ist friedlich hier, die Bäume blenden so grün, als wären sie noch gesund. Aber der Wald ist unwirklich, denn Vögel hört man hier nicht mehr. Das Grundwasser ist verseucht. Auf der nächsten Lichtung dann geht es los, die Atemwege sind gereizt, die Augen fangen an zu tränen, und ein gewaltiges Husten bricht los. Wie mahnende Zeigefinger recken sich aus einer Dunstglocke Dutzende von gewaltigen Schloten in den Himmel. Man kennt diese Schwarzweißfotos aus dramatischen Reportagen, doch diese Bilder riechen nicht. Als wir den Waldpfad zurückgehen, sitzt vor einem Haus in Unterhemd und Turnhosen ein älterer Mann in seinem Gartenstuhl. Nicht alle sind weggegangen.

Von Leipzig nach Buchenwald. Unweit des Haupteingangs des ehemaligen KZs hat man ein Jugendhotel errichtet. Die Pietät des Tourismus. Ein freundlicher Mann unbestimmten Alters erklärt die Perfidität der Todesmaschinerie. Er bemüht sich nicht, seine eigene Betroffenheit zu verbergen. Dort unten am Hügel habe er selbst einmal einen Hüftknochen und ein altes Brillengestell gefunden, durch einen Zufall, gesucht hätte er nie. Nein, „Leichenfledderei“ sei ihm widerwärtig, neulich hätte jemand für 500 D-Mark ein Grab freigelegt für die Objektive von Westkameras. Ein einziges Mal sei er in den Wald dort hinten gegangen, der Boden sei nicht natürlich gewachsen, ein Totenwald. Der Mann, der seit drei Jahren vom Grauen jener Zeit erzählt, sieht sich als Aufklärer. Er müsse es nicht, er mache das freiwillig, eigentlich komme er aus der Industrieproduktion. Erzählen wolle er nur solange, wie er glaube, daß man ihm zuhört. Aber würden das diejenigen, die hierherkämen, nicht sowieso tun?, frage ich nach. Mit einem milden Lächeln entgegnet er: „Na, dann schauen Sie mal aus dem Fenster.“ Jugendliche bewerfen sich mit Cola-Dosen.

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