: Der Berg als Bunker
■ „What's the matter?“ / Zum 125. Jahrestag der
Erstbesteigung zeigt eine Schweizer Ausstellung das Matterhorn als Wappentier und nationale Identitätsprothese
Von Thomas Scheuer
Wenn der Berg ruft und das Fernsehen noch dazu, läßt sich Ulrich Inderbinen aus Zermatt trotz seiner 90 Jahre nicht lumpen: Schon an die 370 mal in seinem Leben stand der vermutlich älteste Bergführer der Welt ganz oben, am heutigen Samstag will er wieder rauf aufs Matterhorn Endstation und Kulminationspunkt bergsteigerischer Sehnsüchte. Im Schlepp hat der Kraxler dieses Mal nicht die üblichen Alpentouristen. Einen leibhaftigen Bundesminister soll er zusammen mit vier weiteren unerfahrenen Bergnovizen über die sogenannte Normalroute auf den „König der Berge“ liften. Das Ganze natürlich live fürs Fernsehen. Anlaß des kameragerechten Gipfelsturms: Der 125. Jahrestag der Erstbesteigung des 4477,5 Meter hohen Matterhorns.
Am 14. Juli 1865 hatte der Brite Edward Whymper zusammen mit den beiden einheimischen Bergführern Peter Taugwalder Vater und Sohn und vier weiteren Klettergefährten erstmals das Matterhorn bezwungen. Bis heute im Dunkeln blieb der Kriminal-Aspekt der Premiere: Vier Klettergefährten Whympers stürzten beim Abstieg ab. Ein Zermatter Gericht konnte nicht klären, ob das Seil einfach gerissen war oder ob Vater Taugwalder mit dem Sackmesser nachgeholfen hatte. „What's the matter?“ Mit diesen Worten wurde Whymper nach seiner Rückkehr von der tragischen Tour von einem einheimischen Hotelier empfangen.
„What's the matter“ ist auch der Titel einer Ausstellung, welche die Diritissima von der Pioniertat Whympers bis zur massengerechten Totalvermarktung des eidgenössischen Nationalzipfels nachzeichnet. Einst Herausforderung für markige Einzelkämpfer, ist der „Horu“, wie der Granitzinken im melodischen Dialekt der Walliser heißt, nämlich mittlerweile zur Startrampe für die Lemminge des modernen Bergtourismus verkommen. Während der Hauptsaison, von Juli bis September, wird es zuweilen eng auf der schmalen Gipfelwächte: Bis zu 200 Klettermaxen täglich (!) turnen dann über den „Horu“. Wer in der Zunft der Alpinisten etwas gelten will, muß ihn halt mal „gemacht“ haben. Selbst dem gemeinen Fußgänger unten im Dorf bietet der Andrang in lauen Sommernächten, kurz vor dem Morgengrauen, ein faszinierendes Schauspiel: Zahllose Lichtlein flirren und blinken entlang der schemenhaften Bergsilhouette. Weder sind es aufgescheuchte Bergdämonen noch überdimensionierte Glühwürmchen, die da dem Matterhorn auf der Felsnase herumtanzen. Es sind die Stirnlampen der Seilschaften, welche entweder beim Abstieg von der Nacht überrascht wurden oder den Aufstieg noch in der Nacht antraten, um der mit dem Morgengrauen zwischen drei und fünf Uhr einsetzenden Rush -hour zu entgehen. Bei schönem Wetter ist am Matterhorn 24 -Stunden-Betrieb angesagt.
Die Sprossenwände und Kletterseile der Schulturnhalle von Zermatt geben den beziehungsreichen Hintergrund für die am letzten Freitag dort eröffnete Ausstellung „What's the matter? Zur Kulturgeschichte des Matterhorns“ ab, die der Kunsthistoriker Werner Jehle schon letztes Jahr für die Basler Galerie Littmann zusammengestellt hat. In den Glasvitrinen, in denen die Galerie sonst hochwertige Art -Ware präsentiert, liegen jetzt Eispickel, genagelte Bergschuhe, Steigeisen, verbeulte Helme und abgerissene Seilenden. Alte Kupferstiche, Gemälde und Fotos zeichnen die Karriere des Kultberges nach, an dessen Flanke schon das Tiroler Bergwunder Luis Trenker seine strammen Wadeln ins rechte Celluloid rückte, nämlich bei den Dreharbeiten zu „Der Kampf ums Matterhorn“, 1938. Jehle hat vor allem Belege über die Entwicklung des Berges vom Nationalsymbol zum modernen Marketing-Signet zusammengestellt: Kartenspiele, Bierkrüge, Krawatten, Duschvorhänge, Briefmarken oder Swiss Bankers Traveller-Cheques - erst der Matterhornaufdruck stempelt all den Konsumkram zum Markenprodukt „made in Switzerland“. Ob für Banken, Butter oder Desinfektionsmittel - von Schokolade und Uhren ganz zu schweigen - geworben wird: Wenn das Wappentier Wilhelm Tell nicht als Werbeträger zur Verfügung steht, muß die Granitpyramide herhalten. Selbst die Karten, mit denen der 'Spiegel‘ in der Schweiz zum Abo bittet, ziert ein Matterhorn.
Leider fehlen in Jehles Sammlung ausgerechnet jene Matterhorn-Darstellungen, die Einblick in die tieferen Schichten der helvetischen Seelenlandschaft gewähren, nämlich die aus der Militärpropaganda. Da findet sich etwa in einem alten Militärbuch ein Foto, auf dem der legendäre General Guisan zusammen mit zwei anderen Waffenrock-Trägern vor dem Matterhorn posiert. Das uniformierte Männchen mit seinen flatternden Reithosen personifiziert eine Legende: daß nämlich nur die wackere Miliz-Armee Hitlers Horden vom Einfall in die Alpenidylle abgehalten, mithin die Oase Schweiz in einem rundum brennenden Europa bewahrt habe. General Guisans Verteidigungskonzept für den Fall eines Überfalls durch die Hitler-Wehrmacht lautete schlicht: Einbunkern im Alpenfels. Das flache Mittelland sollte samt seiner Bevölkerung dem Feind preisgegeben werden, die ökonomische, politische und militärische Elite sich samt Armee im sogenannten „Reduit“ einigeln - in den zur uneinnehmbaren Festung ausgebauten Alpen. Die Berge der Schweiz, vor allem das Massiv des St. Gotthard, sind noch heute von militärischen Bunkern, Stollen, Nachschubdepots, Krankenhäusern und Kommandozentralen durchlöchert wie der sprichwörtliche Käse.
Bedrohung von außen - Rückzug nach innen, das sind die beiden zentralen Komponenten schweizerischen National -Unterbewußtseins. Die Bedrohung von außen als identitätsbildende Kraft drängte schon die alten Helvetier zum legendären Rütli-Schwur, mit dem der erste eidgenössische Schutz- und Trutzbund besiegelt wurde. Heute formiert sich die traditionelle „Angst vor fremden Vögten“ als Abwehrhaltung gegenüber der EG. Frei nach der verqueren Logik: Je kleiner das Land, desto größer die Abschottung. Selbst ihren Beitritt in die UNO lehnten die Eidgenossen vor wenigen Jahren per Volksabstimmung ab. In einem Europa des Umbruchs, dessen Bürger von Abrüstung träumen, verschanzt sich die Elite Helvetiens und zementiert weiterhin, gar nicht nur symbolisch, ihr Reduit: Erst vor wenigen Wochen gab Bern zig Millionen Franken für den Neubau eines unterirdischen Regierungsbunkers frei und erneuerte ein Abkommen mit Kanada, wonach die führenden Konzerne und Banken des Landes im Kriegsfall automatisch ihren Hauptsitz ins Nato-Land Kanada verlegen sollen.
Der Mechanismus des geistigen Befestigungssystems ist einfach: Die Bedrohung muß erhalten bleiben, weil sie als Klammer die nationale Identität, die verschiedenen Sprach und Kulturregionen der Schweiz zusammenhält. In einem offenen Europa der Regionen - was sollten da etwa die italienischsprachigen Tessiner oder die frankophilen Jurassier noch mit dem sturen Bern am Hut haben - würden die Zentrifugalkräfte die künstliche Nation auseinanderdriften lassen. Vor dem Hintergrund des Bedrohungswahns wird auch der Staatsschutz-Skandal verständlich, der neben den Affären um Geldwäscherei, Drogen, Waffenhandel samt einer gestolperten Justizministerin in jüngster Zeit das eidgenössische Selbstbewußtsein arg gebeutelt hat. Rund 900.000 Personen und Organisationen hatte der Staatsschutz in einer Geheimkartei erfaßt, weil er, so das Fazit einer parlamentarischen Untersuchungskommission, einem „überholten Bedrohungsbild“ nachhing.
Armee und Alpen - zwei Stützen des Igel-Syndroms. General Guisan seelig über die Armee: „Die Armee ist also die älteste unserer Einrichtungen, jene, die sich am wenigsten verändert hat und am natürlichsten aus unserem Volke hervorgegangen ist: die Erstgeburt des Schweizervolkes“. Nur die Berge waren vorher schon da. Guisan über die Alpen: „Der schweizerische Geist enthüllt sich am schönsten in der Einsamkeit der Alpengegend.“ Deshalb, so kommentiert der Basler Historiker Jakob Tanner den Reduit-Mythos, „wurde das Gotthard-Massiv sozusagen zum sozialpsychologischen Zentralkomplex der nationalen Identität, zum ideellen Rückgrat des helvetischen Selbstverständnisses.“ Aber, so könnte man Tanner ergänzen, fotogener ist eben das Matterhorn.
Eine zehneinhalbstündige Sondersendung wird das steinerne Faszinosum, dessen abgeknickter Gipfel an eine verrutschte Jakobinermütze erinnert, am heutigen Samstag auf die schweizerischen Bildschirme beamen. Ulrich Inderbinen wird den Verkehrs- und Energie-Minister Adolf Ogi, dem als Ex -Präsident des Skiverbandes PR kein Fremdwort ist, kameragerecht auf den Gipfel führen. Und obwohl der 90jährige „sich noch immer ganz gut zwäg“ fühlt, wird er sich seinerseits von jüngeren Bergführern ans Seil nehmen lassen. Denn Schneefall hat in den letzten Tagen die Lage am Matterhorn verschlechtert. Am Montag wurde mit Hilfe von Helikoptern - Whymper mag im Grabe gestrampelt haben versucht, vom Gipfelgrat her den Schnee wegzuräumen und eine Spur zu legen; Bergführer schlugen zusätzliche Haken in den Fels und verlegten fixe Seile. Für den Fall, daß schlechtes Wetter die Live-Sendung vom Jubiläumsaufstieg verhindert, hat das Fernsehen schon am Dienstag eine Konserve angelegt.
Ausstellung „What's the matter? - zur Kulturgeschichte des Matterhorns“ Turnhalle Schulhaus Zermatt bis 11. August, tägl. mo - fr, Katalog: 25 Franken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen