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„Daß der Kampf sinnlos ist“

■ Inge Vietts Abschiedsbrief an ihr Magdeburger Arbeitskollektiv

DOKUMENTATION

Liebes Kollektiv,

Ich möchte nicht aus eurem Leben verschwinden, ohne einige Worte der Klärung. Dabei erwarte ich nicht, daß ihr mich versteht. Weil ich glaube, daß ein in der DDR geborener Mensch ein Leben wie das meinige kaum verstehen kann, denn dazu gehört die Erfahrung und Berührung mit den Glanz und dem Elend der gesellschaftlichen Gegebenheiten der kapitalistischen Welt. Aber ich möchte, daß eure eigene Erfahrung mit mir, wie ihr mich erlebt und empfunden habt in der gemeinsamen Arbeit, nicht begraben wird von dem Bild, wie es die West-Presse von mir malt. Es ist schließlich ihr Geschäft.

Um durchsichtig zu machen, warum die Entscheidungen in meinem Leben so und nicht anders waren, ist es nötig, euch den Hintergrund in groben Zügen mitzuteilen. Ich bin elternlos aufgewachsen, im Waisenhaus und bei fremden Leuten. Diese Leute und das Dorf, in dem ich groß geworden bin, waren zutiefst geprägt vom Faschismus. Man grüßte sich noch mit „Heil Hitler“ und der Lehrer lehrte uns Kindern, daß die Juden selbst schuld an ihrer Vernichtung waren, schließlich wollten sie das Deutschtum untergraben. Faschismus aber heißt auch immer: Geringachtung, Ausbeutung und Ausnutzung des Schwachen. Ich war das Schwache: ein herrenloses Kind, Gott weiß woher, frei für jedermann und Untertan eines jeden.

Mit fünfzehn rannte ich weg. Was ich mitnahm, war die leidenschaftlich empfundene Qual, wenn mir Ungerechtigkeit und Würdelosigkeit begegnete. Es gab Menschen, die mir weiterhalfen. Ich schaute mich um in der Welt, arbeitete, lernte, wollte wissen warum die Dinge sind, wie sie sind. Was ich auch tat, wo ich auch war, überall begegnete mir diese Unterwerfung der menschlichen Anständigkeit unter die gnadenlosen Gesetze des Marktes, des Geldes, des Ringens um Macht. Vom Charakter her ist mir einfach nicht gegeben, damit zu leben. Mir fehlt die Fähigkeit zur Ignoranz und Anpassung an diese Lebenshaltung von: Friß oder werde gefressen. Ende der sechziger Jahre machte ich eine Reise in die Länder der Dritten Welt, in Länder, die von den großen amerikanischen und europäischen Konzernen wirtschaftlich beherrscht sind. Was ich da gesehen hab‘, gab mir den Rest: Die fruchtbarsten Gebiete waren im Besitz der Konzerne, die produzierten Produkte wurden ausgeführt in die reichen kapitalistischen Staaten. Das Vieh der Einheimischen - die Grundlage ihrer Ernährung - verdörrte in Trockenzeiten und mit ihm die Menschen in den Zäunen der abgesperrten nahrungsreichen Gebiete. Wer sich von den Einheimischen trotzdem Zugang verschaffen wollte, wurde von den Wächtern der „freien Welt“ mit Schußwaffen vertrieben.

In den Städten beanspruchten die Europäer und Amerikaner die schönsten Viertel für sich, mit riesigen Parkanlagen, großen und kleinen Palästen. In den einheimischen Vierteln waren die Straßen übersät mit Verkrüppelten, Kranken, Bettlern und Obdachlosen. In den pompösen europäischen Nobelhotels herrschte ein unbeschreiblicher Luxus. (...)

Ich fuhr zurück und war reif für eine schonungslose Auseinandersetzung mit den sogenannten „Demokratien der freien Welt“. Reichtum und Macht durch Reichtümer haben mich noch nie geängstigt oder beeindruckt. Das sind Größen, die alle wesentlichen humanistischen Werte unterdrücken, wie Solidarität, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Achtung auch vor der Würde der Schwachen. Als ich zurückkam, war die Jugend der BRD in Aufruhr. Es ging gegen den grausamen Krieg der USA in Vietnam und die Beteiligung der BRD daran. Es ging gegen die Unterdrückung der Schwarzen in Afrika und Amerika, gegen die Ausbeutung der armen Länder und gegen den sinnlosen überschäumenden Konsum im eigenen Land. Es tobten heftige Demonstrationen und Straßenschlachten in den Städten. Die ersten Schüsse fielen, der erste Tote, ein von der Polizei erschossener Demonstrant.

Das war der Anfang eines jahrelangen, verbissenen Krieges zwischen einigen wenigen und einem bis an die Zähne bewaffneten Staat. Das Vorbild Kuba, Vietnam, PLO vor Augen, glaubten wir eine Revolution initiieren zu können. Aber alles, was wir wollten - eine menschliche Gesellschaft zu erkämpfen -, verkehrte sich ins Gegenteil: Menschen wurden erschossen auf beiden Seiten, die Gefängnisse füllten sich. Der Staat schuf immer mehr Gesetze und Überraschungsnetze, mit denen er die gesamten fortschrittlichen Kräfte in Schach hielt. Von den Medien wurden wir ununterbrochen als blutrünstige Monster oder Irre beschrieben. Damit die Bevölkerung, die uns am Anfang viel Sympathie entgegenbrachte, uns nicht mehr unterstützte, sondern Angst bekam. So kam es denn auch nach Jahren im Untergrund zu dem Schluß, daß der Kampf mit diesen Mitteln aussichtslos und sinnlos ist. Wenn die Bevölkerung oder Teile, Schichten der Bevölkerung nicht bereit ist, revolutionäre Veränderungen mitzutragen, wird der Kampf einer kleinen Gruppe gegen den Staat zu einer Privatfehde, hat geschichtlich keine Chance und ist somit nicht mehr legitim. Das war der Punkt, an dem ich mich für die DDR entschied. Ein Land, das sich die Werte, für die ich lebte, auf seine Fahnen, in seine Verfassung und seine Gesetze geschrieben hat: Antifaschismus, Solidarität, Völkerfreundschaft, soziale Gerechtigkeit und Kollektivität. Für diese gesellschaftlichen Ziele hab‘ ich all die Jahre in der DDR mit großer Kraft gelebt und gearbeitet. Es sind die wichtigsten Jahre in meinem Leben.

Natürlich machte auch ich die Erfahrung, daß die DDR noch weit entfernt ist von der Realisierung ihres gesellschaftlichen Anspruchs. Dennoch ist sie für mich der bessere Teil Deutschlands, humaner, sozial gerechter, gemeinschaftlicher, den Idealen des guten Menschen mehr zugewandt als den Gesetzen der Wölfe.

Ich möchte mich verabschieden mit dem Wunsch, daß keinem von euch in der Zukunft Schweres oder Schlechtes widerfährt. Besonders grüßen möchte ich Käthi, die mir mit dem Motor...? Ich meine jeder, der es möchte, sollte das, was die Presse schreibt, relativieren können.

Im Tresor sind die Gewerkschaftsgelder. Ich hab‘ der Kriminalpolizei den Schlüssel dafür übergeben mit der Bitte, ihn euch zu übergeben.

Es tut mir bitter leid, daß ich euch mit dem Kinderferiensommer so in der Tinte sitzen lassen muß und hoffe sehr, daß ihr ihn trotzdem irgendwie durchführen könnt. Auch über Post würde ich mich dolle freuen. Seid herzlichst gegrüßt, Eva Maria Schell.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der 'Magdeburger Volksstimme‘.

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