piwik no script img

Zehn Personen in einem kleinen Raum

■ Juden aus der Sowjetunion leben in Mögelin in einem provisorischen Aufnahmeheim / Viele brauchen medizinische Hilfe / Jüdische Gemeinde West schickt Bedürftige nach Ost-Berlin

Rathenow/Potsdam. Die antisemitischen Töne der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“ und die rätselhaften „Chemieerkrankungen“ in Tschernovij trieben den Arzt Alexander K. (35), seine Frau und die kleine Tochter aus der Westukraine in die DDR. Seit dem 23. Juni dieses Jahres lebt die Familie nun im provisorischen Aufnahmelager Mögelin bei Rathenow im Bezirk Potsdam. Die letzten Monate „zu Hause“ waren furchtbar. „Nacht für Nacht“, erzählt Alexander K., fuhren Armeelaster durch die Stadt, beladen mit undichten Giftfässern. In den Wochen vor der Ausreise erkrankten mehr als zweihundert Kinder. Die Haare fielen ihnen aus, sie fingen an zu fiebern, und kein Arzt konnte ihnen helfen. Alexander K. bekam Angst um seine Familie, vor allem um seine Frau Daria. Ihr Zustand ist seit längerem labil, denn drei Monate nach dem Super-GAU in Tschernobyl wurde sie als Ärztin in das Notstandsgebiet rund um den explodierten Reaktor geschickt. Sie befürchtet, daß sie „inkorporiert“ ist, das heißt strahlenkrank durch verseuchte Nahrung. In Berlin hoffen sie jetzt auf solide medizinische Betreuung.

Mischa O. ist krank. Seine verkrampften Hände hören nicht auf zu zittern, die kleinste Erkältung wirft ihn um. Jeder blaue Fleck wächst sich zu einer Katastrophe aus. Die Nase blutet ständig, das Gesicht schwillt an. Micha O. ist fünf Jahre alt und wurde ein Jahr nach der Tschernobyl -Katastrophe im Notstandsgebiet geboren. Er braucht dringend medizinische Hilfe und hat sie in der Ukraine nicht gefunden. Mit der Mutter, ebenfalls blaß und ständig kränkelnd, reiste er Mitte Juni nach Ost-Berlin und wurde vom Ostberliner Paß und Meldeamt nach Mögelin ge schickt.

Jurig R. (36) ist Diplomingenieur aus Leningrad. Er, seine Frau und zwei Kinder flüchteten vor den antisemitischen Bedrohungen der Pamjat-Bewegung. Immer öfters fand er im Briefkasten anonyme Briefe: „Juden haut ab, oder wir bringen Euch um.“ Der 11jährige Sohn mußte „ich bin eine Jude“ in die Schulbücher schreiben. Der erste Weg in Deutschland führte ihn zur Jüdischen Gemeinde nach West-Berlin. Dort riet man ihm, nach Ost-Berlin zu gehen, die Unterbringungsmöglichkeiten wären dort besser. Die Ostgemeinde schickte ihn erst in das ehemalige Stasi-Gebäude nach Ahrensfeld, der Heimleiter die Familie weiter nach Mögelin.

Drei Schicksale von Juden aus der Sowjetunion. Jeder der 45 Bewohner im ehemaligen „Objekt der Zivilverteidigung“ in Mögelin trägt eine schwere Bürde. Alle hoffen, daß der Leidensweg endlich ein Ende hat, sie in der DDR Arbeit, Wohnung und medizinische Betreuung finden. Insgesamt leben momentan in der DDR rund fünfhundert sowjetische Juden. In Ahrensfelde und Schildow bei Berlin, in Magdeburg, Apolda und eben in Mögelin. Das Unterbringungsheim dort ist für eine längere Verweildauer nicht geeignet, es gibt nur wenige Zimmer, bis zu zehn Personen müssen sich einen winzigen Raum teilen. Im Unterschied zu Ahrensfelde werden sie in Mögelin aber nicht wie „Fälle“, sondern wie Menschen behandelt. Das Verhältnis zu dem Heimleiterehepaar Jäkel ist gut, „Mutti“ und „Vati“ werden sie genannt, und in der Tat, man mag sich gegenseitig. „Ich bin froh“, sagt Ulrich Jäkel, „daß wir Juden aus der Sowjetunion haben und „nicht Zigeuner aus Rumänien“. Beide bemühen sich rührend um ihre „Gäste“ und ihre Sorgen. Viele unbezahlte Überstunden stecken sie in die Betreuung. Neulich haben sie gar ein Zelt organisiert. Das wurde jetzt gemeinsam in eine Sauna umfunktioniert.

Die Währungsunion hat das Leben im Heim schwerer gemacht. Der tägliche Etat von zehn Mark pro Erwachsenem, 15 pro Kind, reicht kaum für die Grundnahrungsmittel. Helga Jäkel ist täglich lange unterwegs, um Sonderangebote nach Mögelin zu bringen. Gekocht wird von den Heiminsassen selbst. Die Arbeit wird mit fünf Mark pro Stunde bezahlt. Weil keiner sonderlich religös ist, kommt auch Schweinefleisch auf den Tisch. „Ohne die Hilfe der evangelischen Kirche in Rathenow und Premnitz sähe die Versorgung mit Obst und Kleidung schlecht aus“, meint das Ehepaar, den täglichen Sprachunterricht hat die Kirche organisiert. Oft kommen auch Rathenower Bürger und laden die Heimbewohner in die Familien ein. Ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde Ost-Berlin hat sich bisher in Mögelin nicht blicken lassen, und Alexander K. bestätigt das: „Die einzige Hilfe von Juden, die ich bisher erhalten habe, kam bisher von der kleinen Gemeinde Adass Jisroel.“

Anita Kugler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen