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Kohl triumphiert im Kaukasus: Michail Gorbatschow entläßt ein vereintes Deutschland in die Nato

■ Ein Durchbruch auf der ganzen Linie: Volle deutsche Souveränität zum Zeitpunkt der Vereinigung / In den nächsten Jahren werden die deutschen Truppen auf 370.000 Mann reduziert / Erste begeisterte Reaktionen

Schleslesnowodsk/Bonn/Brüssel (taz/dpa/ap) - Kanzler Kohl hat allen Grund zu strahlen: Der Nato-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland steht nichts mehr im Weg. Gorbatschow und er haben sich darauf verständigt, daß Deutschland „selbst und frei“ entscheiden kann, welchem Bündnis es angehören möchte.

Zum Abschluß seines Besuchs in der UdSSR teilte Kohl gestern mit, daß die sowjetischen Truppen in der DDR nach einer vertraglichen Regelung innerhalb von drei bis vier Jahren abziehen werden. In dieser Zeit sollten die Nato -Strukturen nicht auf das Territorium der DDR ausgedehnt werden. Schon unmittelbar nach der Vereinigung können jedoch schon Bundeswehrverbände auf dem Gebiet der heutigen DDR und von Berlin stationiert werden. Bis zum Abzug der sowjetischen Truppen sollten die West-Alliierten in Berlin bleiben. Die Streitkräfte Deutschlands sollen innerhalb einiger Jahre auf 370.000 Mann reduziert werden. Mit der Vereinigung würde Deutschland die volle Souveränität erhalten.

Gorbatschow bezeichnete die Begegnung mit Kohl als „größte und wichtigste in unserer Zeit“. Die politische Entwicklung in Europa sei stürmisch. Ihm und Kohl sei es gelungen, meinte der sowjetische Staats- und Parteichef, die gemeinsamen Interessen der beiden Länder aufeinander abzustimmen. Weder die eine noch die andere Seite habe alles erreicht, was sie wollte. Was Kohl nicht erreicht hat, sagte er nicht. Zum geplanten Abzug der sowjetischen Truppen meinte er: „Wir vertrauen darauf, daß dann dort keine ausländischen Truppen einmarschieren.“ Gorbatschow vertraut darauf, daß die Deutschen ihre Lehren aus der Geschichte gezogen haben.

Kohl revanchierte sich bei Gorbatschow mit einer Einladung nach Bonn und Oggersheim. Das vereinte Deutschland werde auf Besitz und Produktion atomarer, biologischer und chemischer Waffen verzichten, ergänzte der Kanzler die Abmachungen über die Truppenstärke. Sofort nach seiner Rückkehr werde er die Regierung der DDR über die Ergebnisse informieren. Er lobte das gegenseitige Verständnis zwischen ihm und Gorbatschow: „Das persönliche Vertrauen ist weiter gewachsen“, resümierte er die Atmosphäre des Besuchs.

Parallel zu Kohl und Gorbatschow hatten Genscher und Schewardnadse sowie die Finanzminister Waigel und Pawlow konferiert. Dabei ging es vor allem darum, mit welchen wirtschaftlichen und finanziellen Hilfen die Bundesrepublik und später das wiedervereinigte Deutschland die UdSSR unterstützen könnten. Kohl hatte politische Fortschritte im Vorfeld des Besuchs ziemlich unverblümt mit finanziellen Reizen gekoppelt, Gorbatschow einen solchen Zusammenhang schnöde zurückgewiesen. Gesprächsergebnisse auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet wurden vorläufig noch nicht bekannt.

In ersten Reaktionen war ein überwältigend positives Echo auf die kaukasischen Abmachungen zwischen Kohl und Gorbatschow zu vernehmen. Die Nato begrüßte erwartungsgemäß die Mitgliedschaft des vereinten Deutschland. Volker Rühe, Generalsekretär der Kanzler-Partei CDU, sprach von Ergebnissen „von historischer Tragweite“. SPD-Kandidat Lafontaine begrüßte insbesondere die Reduzierung der deutschen Truppen auf 370.000 und mahnte schnellere Abrüstung an. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Ehmke, meinte, die Ostpolitik Willy Brandts habe sich jetzt „voll durchgesetzt“. Die jetzt getanen Schritte entsprächen insgesamt langfristischen sozialdemokratischen Vorschlägen.SEITE 2

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