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Das Ende der Kunst ?

 ■ Wider die Rhetorik vom Kulturabbau in der DDR

Von Rolf Schneider

Seit das Ende der alten DDR absehbar wird, räuspern sich die in ihr wohnhaften Erzeuger von Kultur. Ihr Ton kommt düster. Vokabeln wie Erhalt, Identität, Verdienst, Erbe, Tradition und Besonderheit kehren ständig wieder. Die Semantik erinnert an museale Bestandsaufnahmen, aber die heimliche Absicht heißt Geld. Sie befürchten den Fortfall einstiger Privilegien, solcher der materiellen, doch auch der immateriellen Art, wobei die zweite oft Folge der ersten war.

Daß sie ihre wahre Absicht lieber verstecken, hat teils mit ihrer in vierzig Jahren eingeübten Unaufrichtigkeit zu tun, teils mit der in Deutschland verbreiteten Mode, vom Gelde, als sei das etwas Obszönes, lieber nicht zu reden.

Wir wollen ihnen entgegenkommen und uns einlassen auf etliche ihrer Argumente, wie vorgeschoben sie sind.

Seit die Ost-Deutschen in ihrer Mehrheit übereinkamen, dem von ihnen besiedelten Staat aufzulassen, schwinden auch sämtliche Voraussetzungen für die in demselben verfertigte Kunst. Die Identität des Staates wurde hergestellt durch die Mauer. Die Identität dortiger Kunst wurde hergestellt durch die Mauer im Geist, genannt Zensur. Sie hat der unter ihren Bedingungen gefertigten Kunst deutliche Eigenarten vermacht: negative voran, wie Verkrüppelungen, Anachronismen, Verarmung, Lüge und Kitsch, doch auch erfreuliche wie Trotz, Schläue, Gelenkigkeit und Witz.

Überhaupt ist es ein verbreiteter Irrglaube, daß Zensur und Unterdrückung den Künsten durchweg unbekömmlich seien. Die Kulturgeschichte steckt voll der gegenteiligen Exempel, wie sich insgesamt Unterdrückung und Zensur in der Kulturgeschichte viel länger behauptet haben als deren Abwesenheit. Bloß dem Körper und Geist des Künstlers ist der zweite Umstand zuträglicher als der erste, weswegen man davon abraten soll, um der ästhetischen Resultate willen den ersten etwa zu verlängern.

Die alte DDR hat die physischen Folgen von Unterdrückung und Zensur zwar nicht abgeschafft (sie hätte sich dann gleich selbst abschaffen können), aber sie hat die daraus resultierenden Unzuträglichkeiten durch Guttaten gefettet.

Die Leute des DDR-Kulturbetriebs befanden sich deutlich über dem allgemeinen Niveau. Noch der unbekannte Lyriker wohnte in üppigen Zuständen, verglich man sein Leben mit dem eines Rentners. Gleichwohl kam der Rentner in Denken und Bildern des üblichen DDR-Künstlers nicht vor, und auch heute noch, retrospektiv, geschieht dies keinesfalls.

Statt dessen ergriffen die Borniertheiten des Künstlers selbst dessen ureigenen Bereich, den ästhetischen. Wo waren seine Proteste, als die historischen Städte verfielen, da die zur Verfügung stehenden Mittel lieber für pompöse Repräsentationsfeste des Sports und der staatlichen Selbstfeier aufgewendet wurden ? Außer einer allgemeinen Nutzlosigkeit boten sie freilich den Vorzug, daß der eine und andere gut dotierte Kunstauftritt dabei abfiel. Woraus erhellt, wie die Künste im Land sich eigentlich befanden: parasitär.

Es sei ihnen dieser Zustand nicht durchweg zum Vorwurf gemacht. Er war unausweichlich. Doch wäre es schamlos, ihn jetzt nostalgisch zu preisen oder gar virtuell zu verlängern.

Eine der Behauptungen, mit denen DDR-Künstler ihren heutigen Anspruch unterfüttern, hat nun zum Inhalt, die Veränderungen des Herbst 1989 seien gewissermaßen von ihnen herbeigeschrieben, gemalt, gespielt, gesungen, und also geschähe ein Unrecht, würden infolge dieser Veränderungen die ästhetischen Urheber verschüttet.

Die Behauptung ist eine Lüge. Die Veränderungen des Herbst 1989 in der DDR geschahen nicht in der Konsequenz von Ästhetik, sondern infolge massenhafter Fluchten via Ungarn und Tchechoslowakei, deren Teilnehmer nichts weniger in Kopf und Gepäck hatten als die schönen Künste.

Die andere Ursache des Zusammenbruchs der alten DDR aber war die wirtschaftliche. Die Künste haben insofern daran Anteil, als sie durch die öffentlichen Haushalte überproportional gefüttert wurden, und derart dürfen sie sich als mitverantwortlich betrachten für den völligen ökonomischen Kollaps im Land.

Die DDR-Künstler rechtfertigen sich noch mit dem Umstand, daß die von ihnen ästhetisch unterbreiteten Bilder der DDR deutlich anders, nämlich wirklichkeitsnäher gewesen seien als jene in irgendeiner anderen Verlautbarung im Land. Selbst dies ist, so gesagt, nicht korrekt. Die Künste (keineswegs alle, die kritischen immerhin) äußerten, was auch die Leute äußerten, wenn sie sich privat fühlen durften. Diese Konvergenz machte den Erfolg der Künste. Voraussetzung war, daß beiden, was sie taten, auch erlaubt war.

Es muß dies ausdrücklich festgehalten werden im Hinblick auf Zeiten, da beides noch unter Strafe stand und demnach nicht geschah: die gesamte Ära des Walter Ulbricht hindurch. Die kleinen Freiheiten der Honecker-Jahre verdankten sich der von der Staatsspitze gemachten Erkenntnis, daß weder ein politischer Witz noch ein freches Buch, nur für sich, die Ordnungsstrukturen des realsozialistischen deutschen Staates zu verwirren in der Lage seien.

Die Künste haben die aus dieser Erkenntnis entstandene Lage weidlich genutzt. Da andere Formen der öffentlichen Mitteilsamkeit, von der staatsmännischen Rede bis zum Radiokommentar, die alten Muster des verhunzten Denkens unverändert weitertransportierten, wurden sie außerdem zu einem Ort der Substrate. Die Kunst ersetzte, was die Presse, die Pädagogik, der Psychiater, die Geschichtswissenschaft, die Oppositionsparteien und das Reisebüro hätten leisten sollen. Ihre vielen Stellvertreteraufgaben waren ästhetisch durchaus anfechtbar, doch befriedigten sie ein massenhaftes Bedürfnis. Diese Tatsache schmeichelte der Eitelkeit des Künstlers in einem hohen Maße, so daß er schließlich verlor, was seinen Vorzug ausmachte: den ungetrübten Blick auf die Wirklichkeit. Er lebte in einem Raum des Uneigentlichen: was sein Produkt, seine Wirkung und seine Bedingungen betraf. Sein Erfolg war ein Mißverständnis. Er nahm ihn als Verdienst. Er wurde Funktion in einem System der repressiven Toleranz, wobei er am Prinzip der Duldung übermäßig, an der Repression vergleichsweise wenig partizipierte.

Wer in der alten DDR zu den Künstlern zählte, hatte das bessere Modell des Daseins gewählt. Nicht nur seine Einkünfte lagen über dem Durchschnitt, auch seine Freizügigkeit war jene Selbstverständlichkeit, die der kommunistische Staat dem Rest seiner Untertanen vorenthielt. Sang der Künstler das Lob der Herrschenden, wurde er von ihnen mit monetären Wohltaten überhauft. Suchte er den Konflikt mit ihnen, berscherte ihm dies angenehme Schlagzeilen jenseits der Grenzen, die ihn mit einer schützenden Aura umgaben und sich ihrerseits monetär ausbeuten ließen. Viele wählten einen irgendwie gearteten Mittelweg, und noch die kecksten unter ihnen dienten der alten Staatsmacht als pseudoliberales Alibi, ob sie das wußten oder nicht. Die meisten wußten es. Die Lebenslüge, auf die sie sich damit einließen, ist ein anderer Ausweis ihrer, unserer parasitären Existenz.

Wie völlig verdorben unser Kontakt zur Wirklichkeit war, zeigen Ereignisse des vergangenen Herbstes, da sich einige Künstler, deren Ruhm ihr vorgeblicher Freimut war, für das Modell einer separaten DDR mit verbessertem Sozialismus ereiferten, während die Wirklichkeit, mit guten Gründen wie auch mit deutlichen Mehrheiten, sich längst anders entschieden hatte. Als sie ihrer Niederlage innewurden, beklagten sie statt ihrer eigenen Blindheit den Sieg eines fremdbestimmten Intellektuellenhasses.

Es sei das ausdrückliche Recht des Künstlers, Minderheiten zuzugehören und selbst Irrtümer zu verbreiten. Auch auf öffentliche Subventionen darf er Anspruch erheben, vorausgesetzt die dafür erforderlichen Mittel existieren. Für die DDR der nächsten Zukunft fehlen sie. Das Land ist bankrott. Die Künstler haben daran Schuld wie andere, weshalb sie jetzt anteilig an den Folgen tragen müssen.

Natürlich wird man die führenden Schauspieltheater des Landes nicht schließen können, wie sehr sie sich derzeitig entleeren. Die Entscheidung, eine Barockfassade vorm unwiderruflichen Verfall zu bewahren oder eine Giftmülldeponie zu entsorgen, weil für beides zusammen das Geld nicht reicht, wird schwierig werden, und wie immer sie ausfällt, sie wird ungerecht sein. Öffentliche Beträge für Auftragsopern aber gibt es unter diesen Umständen nicht. Entgegen einer leichtfertigen Versprechung des amtierenden Kulturministers sollten in der völlig überbesetzten Theaterlandschaft DDR einige Provinzhäuser lieber aufgelöst werden. Abgesehen von den einzusparenden Subventionen ist ihre Arbeit eine Beleidigung sowohl des Publikums als auch der Beteiligten. Megalomanisches, auch die Kosten betreffend, wie des Malers Tübke Figurenfries im thüringischen Frankenhausen, wolle man eine Zeitlang bitte nicht mehr öffentlich finanzieren.

Genau dahin aber gehen, heimlich oder offen, die Wünsche vieler Künstler. Aus Gründen des getrübten Blicks ins Unbillige vernarrt, sind sie außerstande, dort etwas zu erwirken, wo außer der Berechtigung die Gelegenheiten sind. Von gewerkschaftlichen Forderungen, betreffend etwa die Altersversorgung, die Krankenversicherung, den Bibliothekspfennig, die Verwertungsgesellschaften, die Honorarverträge bei den elektronischen Medien ist kaum zu hören. Der weinerliche Schriftstellerkongreß wurde zu einem Exerzitium in Sachen Selbstmitleid, Hilfosigkeit und Selbstbetrug.

Der jetzt häufig vernehmliche Satz, man wolle nicht die Zensur der SED durch die Zensur des Geldes eingetauscht haben, ist insofern Unsinn, als Geld über keinerlei Geschmack verfügt und unfähig ist, ästhetische Präferenzen zu behaupten. Den Geschmack hat das Publikum. Es bleibt Sache der Kunst, sich zu ihm zu verhalten, auch pädagogisch.

In der DDR wird es demnächst arbeitslose Künstler gegen. Der Zustand ist bitter. Ich weigere mich, ihm mehr Anteilnahme zu widmen als der Arbeitslosigkeit jener, deren Schicksal anonym und deren Anzahl ungleich größer ist.

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