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Auschwitz und die Zahlen

■ Was Historiker längst wußten, ist jetzt öffentlich

In schier atemberaubendem Tempo werden die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs revidiert. Die Deutschen sind wieder wer. Wird nun selbst Auschwitz relativiert? Die Gedenktafel in Auschwitz-Birkenau ist abgenommen - sie wird durch eine neue Tafel ersetzt werden. Statt vier Millionen Ermordeten, werden es dann eineinhalb Millionen Opfer sein, derer dort gedacht wird.

Es war kein bundesrepublikanischer Rechtsradikaler, kein Propagandist der „Auschwitzlüge“, der diese Revision vornahm, sondern der renommierte Leiter der geschichtlichen Abteilung des Auschwitz-Museums, Franciszek Piper. Piper machte damit öffentlich, was seit Jahren unter Historikern Konsens ist. Die politischen Verhältnisse, innerpolnische und internationale Rücksichten hatten ihn bislang daran gehindert, öffentlich zu sagen, was die Zeitgeschichtsforscher längst wußten, aber von einem französischen Kollegen abgesehen, niemals aussprachen. Wer wollte sich schon in Zahlenstreit einlassen, wo moralische Betroffenheit, Erinnerung an das Martyrium der Opfer und die Suche nach der eigenen Schuld gefragt waren?

Die absolute Zahl der Opfer und die annährend genaue Bestimmung dieser Zahl relativiert Auschwitz nicht.

Heinz Galinski hat unrecht, wenn er angesichts der neuen Zahlen von einer „Verhöhnung der Opfer“ und von (unhaltbaren) „Spekulationen“ spricht. Tatsächlich hat sich auch Galinski schon vor Jahren bei Berliner Historikern erkundigt, wie das denn mit den Zahlen sei ... Das Beriner Zentrum für Antisemitismusforschung war aber - und zwar entgegen besserem Wissen - nicht bereit, eine klare Antwort zu geben. Recht hat Heinz Galinski freilich, wenn er daran festhält, daß Auschwitz „der schlimmste Vernichtungshof der Welt“ war. Die Revision der Zahlen ändert daran nichts.

Bleibt noch die Frage, wie es zu der falschen Zahl von vier Millionen Opfern kam? Als die Rote Armee das Lager im Januar 1945 befreite, standen sowohl das gefangengenommene SS -Personal als auch die überlebenden Häftlinge unter dem Eindruck der „Ungarn-Aktion“ des Sommers und Spätsommers 1944. Damals waren in den Gaskammern von Birkenau täglich bis zu 20.000 ungarische Juden und Jüdinnen ermordet worden. Entsprechend hoch fielen die Vermutungen dieser Zeugen über die Gesamtzahl der Opfer aus. Die sowjetische Untersuchungskommission überprüfte diese Angaben mittels einer Hochrechnung aus dem Verbrauch des Giftgases Zyklon B und kam dabei zu einem ähnlichen Ergebnis. Das wurde festgeschrieben und die politischen Verhältnisse erlaubten es dann bis heute nicht mehr, es zu korrigieren.

Götz Aly

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