: „Gewalt“ ist nicht „kriminell“
■ Urteil im Groninger Hausbesetzerprozeß: zwischen sechs und acht Wochen / Staatsanwalt will Berufung
Berlin (taz) - Als einen politischen Erfolg für die niederländische HausbesetzerInnenbewegung bewerteten gestern Beobachter das Urteil im Prozeß gegen 139 ehemalige BesetzerInnen eines Wohnkomplexes im nordniederländischen Groningen. Das Bezirksgericht verurteilte die Angeklagten zu sechs, in zwei Fällen zu acht Wochen Haft. Das entspricht in etwa der Zeit, die die in diesem Mai Festgenommenen bis zum Prozeßbeginn in Haft festgehalten wurden. Mit der gestrigen Urteilsverkündung endete nach fünf Verhandlungstagen der größte (und wahrscheinlich auch schnellste) Strafprozeß der niederländischen Nachkriegsgeschichte. Das Gericht stützte die Verurteilung ausdrücklich nicht auf den umstrittenen Paragraphen 140 (Teilnahme an einer Organisation mit kriminellen Zielen), sondern ausschließlich auf Paragraph 141 (Beteiligung an öffentlicher Gewalt). Die Begründung ist bemerkenswert: Zwar seien die BesetzerInnen erkennbar organisiert gewesen, doch könnten ihnen keine kriminellen Ziele nachgewiesen werden. Die erklärte Bereitschaft der BesetzerInnen, die Häuser militant zu verteidigen, wertete das Gericht demnach zwar als „Gewalt“, aber eben nicht als „kriminell“. Und eine Absicht zum Beispiel umliegende Häuser zu zerstören, sei nicht nachzuweisen.
Sowohl im Prozeß als auch während der Auseinandersetzungen um die Räumung im Mai hatten sie immer wieder auf die politisch-moralische Berechtigung ihres Vorgehens hingewiesen. In einer Prozeßerklärung der Angeklagten am letzten Verhandlungstag, dem 10.7., hieß es dazu:
„Die Tatsache, daß die Justiz den Artikel 140 (Mitglied und/oder Unterstützung einer kriminellen Organisation, vgl. 129a) dazu (zur Strafverfolgung, d.A.) benutzt hat, macht den politischen Charakter des Prozesses noch deutlicher. Das Sympatisieren mit einer sozialen Bewegung wie die Besetzerbewegung macht jemanden schon zu einem/r Verdächtigen/r. Deutsche Verhältnisse!... Wir passen uns ihren verächtlichen Prinzipien nicht an! Es ist schlimm, daß sie uns zwingen können, innerhalb ihrer Betonmauern zu leben. Aber unsere Köpfe und Herzen gehören uns!“
So gesehen, erscheint das Urteil, zumindest teilweise, als ein Zugeständnis an die politische Berechtigung nicht nur der Hausbesetzung, sondern auch an die Entscheidung, besetzte Häuser den staatlichen Instanzen nicht kampflos wieder auszuliefern. Das ist eine Interpretation, die die staatlichen Anklagevertreter nicht widerspruchslos hinnehmen: Sie sind in die Berufung gegangen.
Direkt nach der Urteilsverkündung besetzten gestern mittag etwa 30 Personen für eine Stunde ein leerstehendes Bürogebäude, um zu demonstrieren: Der Widerstand gegen die Zerstörung der Städte ist gerechtfertigt und geht weiter.
Lisette Kranzbühler
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