: Ein Pyrenäenbär aus Colorado
■ Greg LeMond war der große Gewinner der ersten Pyrenäenetappe bei der Tour de France Indurain Sieger dieser 16. Etappe / Chiappucci wehrte sich tapfer und verteidigte das Gelbe Trikot
Von Matti Lieske
„Gut über den Tourmalet gekommen! Stop. Straße in gutem Zustand. Keine Schwierigkeiten für die Fahrer.“ Diesen folgenschweren Satz kabelte ein gewisser Alphonse Steines im Jahre 1910 nach Paris, nachdem er während einer eisigen Mainacht, in ständiger Furcht vor Pyrenäenbären, mehrfach in die Irre gehend, allein den 2114 Meter hohen Paß des Tourmalet überquert hatte. Es war ein Satz, an dem sich in der Folgezeit Generationen von Radfahrern die Zähne ausbissen, denn er war die Grundlage dafür, daß von 1910 an die Tour de France über die Pyrenäenriesen des Aspin, Tourmalet und Aubisque führte.
Von wegen: „Keine Schwierigkeiten“. Gerade 41 von 136 gestarteten Fahrern gelang es vor achtzig Jahren, die erste Pyrenäenüberquerung per Rad zu überstehen und in Paris anzukommen. Einer von ihnen war Octave Lapiz, der erste von vielen Helden des Tourmalet. Er gewann beide Pyrenäen -Etappen und legte damit den Grundstein für den Sieg bei dieser denkwürdigen Tour 1910.
Auch in diesem Jahr, während der 215 Kilometer langen 16. Etappe von Blagnac nach Luz Ardiden dürften sich wieder einige Profis in die Phalanx derjenigen eingereiht haben, die das Angedenken des Alphonse Steines auf ewig verfluchen werden. Olaf Ludwig etwa, der Olympiasieger aus der DDR, der sich mit bleichem Gesicht und zusammengebissenen Zähnen die Hänge hinaufkämpfte, auf fast magische Weise vorangetrieben von einem Stück Stoff, daß er am Leibe trug: das begehrte Grüne Trikot des Punktbesten.
Olaf Ludwig hat hervorragende Aussichten, dieses als erster Deutscher seit Rudi Altig 1962 bis auf die Champs-Elysees zu tragen - es mußte ihm nur gelingen, in den Pyrenäen der Disqualifikation wegen Zeitüberschreitung zu entgehen. Und, wie schon bei den aufreibenden Alpenabschnitten, schaffte er es auch auf dieser 16. Etappe. Eine gute halbe Stunde nach dem Sieger kam er als 156. von 164 gestarteten Fahrern nach Luz Ardiden und blieb damit noch im Zeitlimit.
Erik Breukink, der Niederländer, bis zu diesem Tag Zweiter im Gesamtklassement, ist ein anderer, der nicht gut auf Monsieur Steines zu sprechen sein dürfte. Schon im vergangenen Jahr waren ihm die Pyrenäen zum Verhängnis geworden, und auch diesmal trat das ein, was der Amerikaner Greg LeMond erhofft und prophezeit hatte: „Breukink hat bisher bei jeder Tour einen problematischen Tag gehabt.“ Schon am Tourmalet konnte der Niederländer nicht mehr folgen und im Ziel war er auf den vierten Platz zurückgefallen, mit einem Rückstand von 3:49 Minuten auf das Gelbe Trikot.
Der gestürzte Bergkönig aus Segovia
Pedro Delgado, der Mann aus Segovia, war immer einer von denen, die mit Sicherheit irgendwo in ihrem Vorgarten ein kleines Denkmal des kühnen Tourmalet-Bezwingers Steines aufgebaut haben. Die Pyrenäen waren seit jeher sein Terrain und auch diesmal hatte er deutlich seine Kräfte für diesen Tag geschont. Zehntausende seiner Anhänger waren aus Spanien herübergekommen und säumten die Paßstraßen, um mitzuerleben, wie ihr „Perico“ den Herren Chiappucci, LeMond und Breukink zeigen würde, was ein wahrer Bergkönig ist.
Doch sie wurden bitter enttäuscht. Entsetzt mußten sie mitansehen, wie keineswegs Delgado, sondern ausgerechnet dessen Erzrivale LeMond auf dem 13 Kilometer langen Anstieg nach Luz Ardiden plötzlich davonschoß. Mit der Kraft und Behendigkeit eines jener Pyrenäenbären, die vormals Alphonse Steines so geängstigt hatten, zog er davon und die spanischen Fans trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, daß Delgado, der Toursieger von 1988, nicht in der Lage war, dem fulminanten Antritt des Mannes aus Boulder/Colorado zu folgen. Auch Pedro Delgado verlor entscheidende Sekunden, lag im Ziel 3:43 Minuten hinter dem Spitzenreiter, und, wesentlich bedeutender, 3:38 hinter LeMond zurück.
Delgados „Banesto„-Team mußsich nun den Vorwurf gefallen lassen, in diesem Jahr so ziemlich alles falsch gemacht zu haben. Beim Giro d'Italia war es gar nicht vertreten, und bei der Spanien-Rundfahrt war beschlossen worden, daß zum Dank für die wertvollen Dienste, die er Delgado seit langem leistet, der 26jährige Miguel Indurain gewinnen solle. Doch Indurain war der Aufgabe damals nicht gewachsen, versagte in den asturischen Bergen und in den Pyrenäen, und am Schluß war es doch Delgado, der - zu spät und erfolglos - den Angriff auf den Spitzenreiter Marco Giovannetti aus Italien führen mußte.
Bei der Tour präsentierte sich jedoch ein völlig verwandelter Indurain. Schon in den Alpen hatte er eine exzellente Figur abgegeben, dann war er dabei, als LeMond auf der 13.Etappe vor Saint-Etienne ausriß; Indurain war es, der auf der 14.Etappe die Kraft hatte, gemeinsam mit Bugno dem enteilten Lejarreta nachzusetzen, und auch beim Anstieg zum 1.715 Meter hoch gelegenen Luz Ardiden war „Miguelon“ der einzige, der LeMonds Antritt bis zum Schluß folgen konnte.
Die knappen vierzehn Minuten, die er im Gesamtklassement zurückliegt, hat Indurain im Dienste Delgados verplempert und Banesto-Chef Echevarri muß sich ernstlich fragen, ob er bei der Tour nicht auf den falschen Mann gesetzt hat. Auf der Zielgeraden entfleuchte der Spanier dem Amerikaner noch um sechs Sekunden und gewann die Etappe. LeMond leistete allerdings auch keinen Widerstand. „Ich fahre nicht für Etappensiege, ich will die Tour“, hatte er stets betont.
Claudio Chiappucci: drahtig, tapfer, gelb
In Luz Ardiden sprach alles dafür, daß er sie bekommt, obwohl Claudio Chiappucci sein Gelbes Trikot bravourös verteidigte. „Er ist gefährlicher als alle denken“, hatte LeMond schon früh gewarnt, und zur Überraschung aller war es der drahtige Mann aus Ubaldo bei Varese, der früh die Initiative ergriff.
Mit einer kleinen Gruppe fuhr Chiappucci, der der alten Tour-Weisheit, daß das Gelbe Trikot Flügel verleihe, zu neuer Aktualität verhalf, vorneweg, hatte auf dem 1.489m hohen Aspin eine Vorsprung von 36 Sekunden, den er bis zum Tourmalet sogar auf über eine Minute ausbaute. Als es nach Luz Ardiden ging, war aber auch er mit den Kräften am Ende. Er kämpfte jedoch bis zum Schluß und behauptete einen Vorsprung von winzigen fünf Sekunden auf LeMond.
Ein Pyrenäenbezwinger ohne Flügel
Kein Problem für den Amerikaner, der Chiappucci spätestens beim Zeitfahren am Samstag rund um den Lac de Vassiviere hoch überlegen sein dürfte. In Luz Ardiden sprach ohnehin alles dafür, daß LeMond seinen dritten Toursieg nach 1986 und 1989 ein wenig überlegener herausfahren würde als im Vorjahr, wo er nur acht Sekunden vor Laurent Fignon ins Ziel kam.
„Wenn ich vor dem Zeitfahren am Samstag nicht mehr als 30 Sekunden Rückstand auf Breukink und Delgado habe, gewinne ich die Tour“, hatte er immer gesagt. Nun ist er stattdessen fast vier Minuten voraus und hat außerdem einmal mehr einen anderen Satz von Alphonse Steines eindrucksvoll unterstrichen: „Man braucht keine Flügel, um die Pyrenäen zu überwinden.“
Ergebnisse der 16. Etappe:
1. Miguel Indurain (Spanien) 7:04:38 Stunden; 2. Greg LeMond (USA) sechs Sek. zurück; 3. Marino Lejarreta (Spanien) 15 Sek.; 4. Miguel Martinez-Torres (Spanien) 59 Sek.; 5. Fabio Parra (Kolumbien) 1:18 Min.; 6. Roberto Conti (Italien) 1:24; 7. Claude Criquielion (Belgien) 1:36; 8. Pedro Delgado (Spanien) 1:38; 9. Eric Boyer (Frankreich) 1:38; 10. Gilles Delion (Frankreich) 2:00; ... 96. Uwe Raab (DDR) 24:24, ... 102. Mario Kummer (DDR); 103. Jan Schur (DDR); 109. Andreas Kappes (Bremen) alle gleiche Zeit...; 156. Olaf Ludwig (DDR) 30:20
Gesamtklassement nach
16 Etappen:
1. Claudio Chiappucci (Italien) 69:27:50 Std.; 2. LeMond (USA) fünf Sekunden zurück; 3. Delgado (Spanien) 3:43 Min. zurück; 4. Eric Breukink (Niederlande) 3:49; 5. Lejarreta (Spanien) 5:29; 6. Gianni Bugno (Italien) 7:48; 7. Eduardo Chozas (Spanien) 7:49; 8. Criquielion (Belgien) 8:40; 9. Andrew Hampston (US) 9:34; ... 83. Mario Kummer (DDR) 1:22:31; ... 90. Uwe Raab (DDR) 1:29:00, ... 114. Jan Schur (DDR) 1:41:00; ...142. Andreas Kappes (Bremen) 2:03:05; ...150. Olaf Ludwig (DDR) 2:11:44
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