: Tariferfolge in der DDR stoßen auf scharfe Kritik
■ Regierung und Arbeitgeber warnen vor Massenarbeitslosigkeit / Neue Tarifabschlüsse und Kurzarbeit angekündigt Weitreichende Forderungen in bald allen Branchen der DDR-Wirtschaft angemeldet und teilweise durchgesetzt
Berlin (ap/dpa) - Die Tarifabschlüsse in der DDR mit Lohnsteigerungen bis zu 50 Prozent sind bei Wirtschaft und Regierung auf massive Kritik gestoßen. Finanzminister Walter Romberg sprach am Dienstag von einer Lohn-Preis-Spirale, die „wachsende, immense Arbeitslosigkeit“ zur Folge habe. Arbeitsministerin Regine Hildebrandt erklärte, bereits jetzt seien 30 Prozent der DDR-Betriebe zahlungsunfähig. Sie hatte am Dienstag vergeblich den SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine aufgefordert, vor der Kundgebung der protestierenden Bauarbeiter vor übertriebenen Lohnerhöhungen zu warnen.
Der Tarifabschluß für die 300.000 Beschäftigten der thüringischen Metall- und Elektroindustrie sieht monatliche Pauschalzahlungen von 250 beziehungsweise 300 Mark und die Weiterbeschäftigung bis Ende 1991 vor. Außerdem sind Ausgleichszahlungen zum Kurzarbeitergeld von 22 Prozent festgeschrieben.
Der Arbeitgeberverband in Thüringen hatte daraufhin eine drastische Erhöhung des Kurzarbeiteranteils um zehn bis 50 Prozent angekündigt. Arbeitgeberpräsident Murmann warnte vor einer neuen Übersiedlerwelle und wirtschaftlichem Ruin der DDR-Betriebe. Die Ostberliner Regierung sagte trotz dieser Warnungen Ausgleichszahlungen an Pädagogen zur Sicherung deren bisherigen Nettoeinkommens zu.
Zugleich begannen auch die Tarifverhandlungen für die 250.000 Beschäftigten der DDR-Reichsbahn. Einen Tag vor Beginn der Tarifverhandlungen für die rund 650.000 Beschäftigen im DDR-Einzelhandel in Suhl forderte derweil auch die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) am Dienstag Einkommensverbesserungen um durchschnittlich 50 Prozent. Wie HBV-Sprecher Claus Eilrich in Düsseldorf mitteilte, müßten die Einkommen der Handelsbeschäftigten „in jedem Fall um mindestens 300 Mark erhöht werden“.
Als weitere Forderungen nannte der Gewerkschaftssprecher die Zahlung eines 13. Monatsgehaltes als Urlaubs- und Weihnachtsgeld, die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 43,75 auf 40 Stunden sowie ein Rationalisierungsschutzabkommen mit weitreichenden Qualifizierungs- und Umschulungsansprüchen zur Sicherung der Arbeitsplätze.
Die Beschäftigten in Heizungs-, Klima- und Sanitär-Handwerk und -Industrie in Brandenburg erhalten rückwirkend vom 1.Juli an 65 Prozent mehr Lohn und Gehalt. Michael Schlecht von der bundesdeutschen IG Medien, einer der beiden Führer der Gewerkschaften bei den Verhandlungen mit der DDR -Druckindustrie, sagte, das Arbeitgeberangebot bedeute noch acht bis zehn Prozent Netto-Lohnverlust für die Beschäftigten, welcher nach Ansicht der Gewerkschaft durch Steuern und Sozialabgaben ausgeglichen werden müsse.
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